Wenn am Wochenende Punktspiel wäre
Es ist Samstag. Eigentlich Matchday, wie es neudeutsch so schön heißt. Doch der Wecker klingelt nicht. Er tut es an vermeintlichen Spieltagen schon seit Wochen nicht mehr. Laut Spielplan ginge es heute gegen den Tabellenführer SC Victoria 2. Daheim haben wir gegen diese starke Mannschaft von drei Duellen zwei gewonnen. Zuletzt vor fast genau einem Jahr. Was wäre, wenn der Wecker doch klingeln würde.
Es ist 8:30 Uhr. Ich bin sofort wach, verspüre trotz unruhigem Schlaf keinerlei Müdigkeit. Noch drei Stunden bis zum Anpfiff. Mein Magen grummelt. Das tut er immer, wenn es um Punkte geht. Kein Frühstück, weil ich nichts runterbekomme. Ich ziehe meine Trainingshose an und eine Trainingsjacke oder einen Hoodie. Das hängt ganz davon ab, ob wir in dem Outfit in der Vorwoche gewonnen oder verloren haben. Mein einziger Aberglaube.
„Heinsi“ und J Balvin
Ich fahre zum Platz. Der Parkplatz ist leer. Es ist ja noch früh. Noch zweieinhalb Stunden bis zum Anpfiff. Nur ein Auto ist schon da. Das von unserem Teammanager „Heinsi“. Er baut bereits alles für den Verkauf auf, als ich am Platz ankomme. Wir grinsen uns an und fragen den jeweils anderen nach dessem Gefühl für das anstehende Spiel. So ist es immer an einem Samstag, wenn Heimspiel ist. Ich gehe in die Kabine, stelle meine Tasche ab, setze meine Kopfhörer auf und auf Spotify läuft Reggaeton.
Ich schnappe mir die Eckfahnen aus dem Platzwartraum, einen Schraubenzieher, um die oft festsitzenden Eckfahnen-Klappen des Kunstrasens öffnen zu können und drehe meine erste Runde. Eckfahne für Eckfahne mit J Balvin auf den Ohren. Ich singe leise mit, zumindest die Passagen, die ich mit meinen Spanischkenntnissen mitsingen kann. „Me decido por ti, te decides por mí. A la misma hora“.
Es ist für mich einer der schönsten Momente der Woche, alleine über den Platz zu gehen, die Eckfahnen und das Aufwärmen aufzubauen, die Netze zu checken und mich von der Morgensonne blenden zu lassen. Irgendwie steht in diesen Momenten die Zeit still. In einem wächst die Vorfreude auf die Jungs, das Spiel, den Wettkampf und die Emotionen, aber anders als 90 Minuten später ist man noch frei, sorglos. Es ist wie eine kurze Meditation, die pure Idylle.
Ich gehe zurück zur Kabine. „Yo Perreo Sola“ von Bad Bunny dröhnt durch die Kopfhörer. Noch 45 Minuten, bis die Spieler eintreffen, noch zwei Stunden bis zum Anpfiff. Ich stelle die Taktiktafel auf, platziere die Magneten auf dem weißen Untergrund und bringe sie in die entsprechende Formation. Häufig fällt mir zu diesem Zeitpunkt noch irgendwas ein, was ich in der Besprechung sagen möchte. Ab und an entscheide ich erst jetzt endgültig über die Aufstellung.
Quatschköpfe und Schluffis
Die Gegner treffen ein. Ein kurzer Plausch mit dem Trainer über die Liga, die letzten Gegner, den Tabellenstand. Schlüsselübergabe. „In welchen Farben spielt ihr heute?“ „Weißes Trikot, blaue Hose, weiße Stutzen.“ Weiter geht’s. Die ersten meiner Spieler schlendern zum Platz. Es sind meistens dieselben, die früh kommen. Mein Kapitän Henning, Rechtsverteidiger Niels, Sechser Laxx. Sie stellen ihre Taschen in der Kabine ab, jeder an seinem bevorzugten Platz. Ich schaue ihnen dabei zu. Weitere Spieler kommen. Abklatschen, in die Augen gucken. Quatschköpfe bleiben Quatschköpfe und Schluffis bleiben Schluffis. Nicht bei jedem kann ich mir zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass sie wenig später Vollgas geben können – und doch werden sie es tun. Noch 75 Minuten bis zum Anpfiff.
Ich schicke die Jungs zum Umziehen in die Kabine. Kurze Info, in welchen Trikots heute gespielt wird. Die ersten panischen Blicke, ob sie vielleicht etwas vergessen haben und fünf Euro oder mehr zahlen müssen. Dann das erleichternde Durchatmen, wenn sie in den Tiefen ihrer Sporttasche doch noch das Aufwärmshirt gefunden haben. Nicht selten ist es dann ungewaschen.
Franzbranntwein und Schaum vor dem Mund
Ich ziehe mich mit meinen Co-Trainern zurück, bespreche letzte Details. Aus der Kabine tönt der wohl schrägste Musikmix, den es gibt. Jeder darf bei Kabinen-DJ Yannik seine Wünsche einreichen und dann läuft die Playlist einfach im Zufallsmodus. Apache folgt auf Fort Minor, Elektro auf HipHop. Ich mag das. Nach 20 Minuten Umziehen gehe ich in die Kabine zurück. Der Geruch hat sich verändert. Eine Mischung aus ungewaschenen Shirts, Franzbranntwein von Allgäuer Latschenkiefer, die Torwarthandschuhe von Keeper Nico und Schweiß von 19-Jährigen, die den Deoroller nur aus der Werbung zu kennen scheinen. Ein großartiger Geruch. Er ist einmalig.
Ich beginne meine Ansprache. Ein paar Informationen zum Gegner, zu einzelnen Spielern. Nur das, was wirklich relevant ist. Der Fokus liegt auf uns. Wie verhalten wir uns bei eigenem Ballbesitz? Was machen wir, wenn der Gegner wo den Ball hat? Wann pressen wir, wann ziehen wir uns zurück? Ich schaue meinen Spielern in die Gesichter, während ich rede. Der eine nickt und hat bereits Schaum vor dem Mund. Der andere schaut auf den Boden. Ein weiterer gähnt. Ich liebe es.
Notizbuch und Familie
Die Jungs gehen raus auf den Platz. Meine Co-Trainer übernehmen das Aufwärmen. Manchmal gehe ich zu Beginn kurz mit raus, schaue auf die andere Platzhälfte, wer beim Gegner vielleicht fehlt. Dann gehe ich wieder in die Kabine, zücke mein Notizbuch und trage die Standards ein. Ich bin allein. Es ist der letzte Moment der Ruhe. Noch 25 Minuten bis zum Anpfiff.
Kurz bevor die Startelf wieder in die Kabine kommt, gehe ich noch einmal raus, begrüße den Schwiegervater meines Kapitäns, meinen Bruder, meine Mutter und einen Spielervater, der wie bei jedem Heimspiel bereits seinen dritten Kaffee in der Hand hält. Es ist Bezirksliga. Es ist Samstagvormittag und trotzdem kommen alle zwei Wochen dieselben Menschen zu unseren Spielen. Es ist eine große Familie. Und wie es sich in einer Familie gehört, klatscht jeder Spieler mit den bereits anwesenden Zuschauern, die sich am Verkaufsstand tummeln, ab.
Klebrige Haut und Spielerkreis
Die Jungs schwitzen, ziehen sich ihre Aufwärmshirts aus und kämpfen beim Anziehen der Trikots mit der klebrigen Haut und dem künstlichen Stoff ihres Jerseys. Ein paar gehen noch einmal auf die Toilette, andere greifen nach einem Stück Apfel oder einem Müsliriegel, liebevoll drapiert von unserem Betreuer Andreas. Anders als noch beim Treffpunkt sind jetzt wirklich alle fokussiert, auch Quatschkopf und Schluffi. Wir besprechen die Standards, es wird laut, es wird geklatscht, es geht raus. Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff.
Ich gehe als Letzter, schließe die Kabine hinter mir ab. Händeschütteln mit weiteren Zuschauern und ab auf die andere Seite des Platzes zur Trainerbank. Hier hat Andreas zwei Stühle aufgestellt. Die Auswechselspieler sammeln noch die letzten Bälle ein. Leider sind es immer die älteren und nicht die jüngsten, die sich dafür verantwortlich fühlen. Die Teams laufen und stellen sich nebeneinander auf. Shakehands. Spielerkreis vor der Bank mit dem gesamten Staff. Jetzt spricht ein Spieler. Es wird wieder laut. „Los, Männer!“
Herzrasen und Ruhepuls
Beide Mannschaften stehen auf dem Platz, sind bereit, lechzen nach dem Anpfiff. 45 Minuten lang schlägt das Herz mit vollem Tempo. Ein Tor hier, ein Tor da. Chancen, Zweikämpfe, Fouls, Pfiffe des Schiedsrichters. Es gibt Wortgefechte, auch zwischen den Bänken. Alle stehen unter Strom. Es ist ein großartiges Gefühl. Halbzeit.
Der Puls beruhigt sich. Ich gehe mit den Spielern in die Kabine. Ein kurzer Blickkontakt mit meinem Kapitän. Ein, zwei Worte. Für einen kurzen Augenblick lasse ich die Mannschaft in der Kabine allein. Auch die Spieler müssen sich kurz abkühlen. Dann spreche ich. Wir korrigieren ein paar Kleinigkeiten, aber viel ändern müssen wir nicht. Der Spitzenreiter tut sich schwer. Wir sind im Spiel. Keine Wechsel. Weiter geht’s.
Wieder rast 45 Minuten lang das Herz. Wir gehen in Führung, die Kraft lässt nach. Die Emotionen werden stärker. Beim Gegner ist es die Ungeduld, bei uns die Müdigkeit. Es fällt noch der Ausgleich, dann ist Schluss. Enttäuschung auf beiden Seiten, die bald einer gewissen Zufriedenheit weichen wird. Abklatschen auf dem Platz. Es ging hoch her, es wurde viel geredet und doch geben sich alle die Hände.
Bierchen und Mallorca-Träume
Im Kreis lobe ich die Einstellung der Mannschaft, betone, dass ein Punkt gegen den Spitzenreiter ein gutes Ergebnis ist. Die Gesichter meiner Spieler sagen etwas Anderes und innerlich bin auch ich noch enttäuscht. Wir gehen zur Kabine. Die Jungs begrüßen ihre Frauen, ihre Kumpels, ihre Familien.
Dann ein Geräusch, das die Enttäuschung schnell verschwinden lässt. Flaschen klimpern. Der Bierwart trägt einen Kasten vor die Kabine. Klack, Zisch. Das erste Bier ist geöffnet. Es ist Anfang Mai. In wenigen Wochen geht es nach Mallorca. Die Schönheit dieses Moments mit einem Bier in der Hand, der Sonne im Gesicht und der Playa de Palma vor dem geistigen Auge lassen das Spiel schnell vergessen. Wir stoßen an. Es wird gelacht.
Ich ziehe mich mit meinem Bier in der Hand etwas zurück, zücke mein Handy und trage das Ergebnis bei fussball.de ein. Der Puls hat sich beruhigt. Mein Blick verlässt das Display meines iPhones und sucht das Geschehen vor der Kabine. Ich sehe meine Jungs lachen. Ich sehe sie miteinander, mit ihren Freunden und Familien. Es ist das, was den Amateurfußball ausmacht. Ich vermisse es so sehr.