Eine Aufholjagd für die Ewigkeit
1994 habe ich mit dem Fußballspielen begonnen, seit 2006 bin ich Trainer. Ich habe viele verrückte Spiele erlebt, als Aktiver, als Coach und als Zuschauer. Aber das, was am 30. Oktober 2021 auf dem Kunstrasen in Wellingsbüttel passiert ist, ist eine neue, unglaubliche Erfahrung, die mir und allen Beteiligten wohl für immer in Erinnerung bleiben wird. 1:5 lag meine Mannschaft zur Halbzeit zurück, auseinander gefallen wie ein schlecht gebautes Kartenhaus. 7:5 stand es nach 79 Minuten, 7:6 nach 95. Wahnsinn!
Komplettversagen
Eigentlich begann es wie gemalt. Schuss aus 16 Metern, der gegnerische Torwart lässt abprallen, Abstauber – 1:0! Da waren zwei Minuten gespielt. Doch wie schon zuletzt sehr oft präsentierten wir uns ohne die nötige Aggressivität und Spannung, um ein Spiel in Hamburgs dritthöchster Amateurklasse zu gewinnen. Unser Gegner zeigte schon verbal, dass sie unbedingt wollten, pushten sich, trieben einander nach vorne. Durch zwei Einwürfe, die direkt vor unser Tor geschleudert wurden, stand es nach 15 Minuten plötzlich 1:2. Aber was heißt plötzlich? Es war komplett verdient. Und auch wenn sich Wellingsbüttel nur selten bis tief ins letzte Drittel spielte, war die Überlegenheit deutlich spürbar und sichtbar. Wir hatten keinen Zugriff beim Anlaufen, zu große Abstände zu unseren Gegenspielern, keine Idee im Spielaufbau. Dass die Tore zum 1:3 und 1:4 durch einen direkten Freistoß und eine Ecke fielen, passte ins Bild dieser ersten Halbzeit des Grauens. Als negative Sahnehaube gab es in der einen Minute Nachspielzeit auch noch das 1:5, bei dem wir aussahen wie eine Mannschaft, die vor vier Tagen erstmalig miteinander trainiert hat. Halbzeit.
Fehlendes Werkzeug in der Trainerkiste
Ich hatte mir beim Stand von 1:3 etwas zurechtgelegt, was ich in der Pause sagen wollte. Zwei Tore lagen wir ob unserer Pomadigkeit zuletzt mehrfach zurück. Oft konnten wir die Partie dann noch drehen. Doch dann kamen die Gegentore vier und fünf in der 43. Minute und in der Nachspielzeit. Ich bin noch nie mit einem 1:5 in die Pause gegangen. Dafür gab es noch kein Werkzeug in meiner Trainerkiste.
Natürlich wurde es in der Kabine lauter, natürlich ging es um Ehre, um die Frage nach dem Wieso. Aus mir sprach durchaus auch etwas Verzweiflung. Nachdem ich mich gefasst hatte, forderte ich von meinen Spielern, die zweite Halbzeit mit Anstand und Würde zu spielen, das Ergebnis zu ertragen, zu null zu spielen und sich irgendwie etwas vom Ergebnis zu lösen. Keine dummen Fouls, keine Frustaktionen. Keiner glaubte in dieser Kabine an so etwas wie Punkte, oder gar einen Sieg. Der Sportsmann in mir weigerte sich aber dennoch gegen die wahrscheinliche Niederlage. Wer sagt denn schon, ein Spiel sei verloren? Aber mal ehrlich: 1:5? Trotzdem erwähnte ich das einstige 4:0 der Nationalmannschaft gegen Schweden, das noch 4:4 endete. Zumindest den Gedanken mal äußern, auch wenn er komplett unrealistisch zu sein schien.
Taktisch stellten wir etwas um. Der Gegner baute mit Dreierkette auf und zwei hochstehenden Außen. Darauf bekamen wir keinen Zugriff, also fiel die Entscheidung Richtung Aufbau spiegeln. Dazu zwei Wechsel. 4-3-3 und los!
Der komplette Wahnsinn
Zunächst passierte relativ wenig. Wellingsbüttel spielte es etwas verhaltener, vermutlich im verständlich sicheren Gefühl einer 5:1-Führung. Wir waren zwar direkt etwas bissiger und zielstrebiger, aber es ging ja nur darum, uns besser zu verkaufen. In der 63. Minute gab es dann eine Kopie unseres ersten Tores. Schuss, Abpraller, Abstauber und drin. Ergebniskosmetik. Direkt danach holten wir eine Ecke raus. „Wenn wir jetzt das Dritte machen, geht noch was“, sagte unser Betreuer auf der Bank. Perfekte Ecke, perfekter Kopfball – 3:5! Erster Jubel, Fuß in der Tür. Es vergingen 7 Minuten, bis es wieder klingelte. Und jetzt gerät meine Erinnerung durcheinander. Ich weiß nicht mehr, welches Tor, wann wie wie fiel. Nur noch so viel: Unser Linksaußen traf nun innerhalb von acht oder neun Minuten viermal. 71., 77., 78., 79.! Plötzlich stand es 7:5. Der Torschütze lief nach seinen Treffern desillusioniert übers Feld, wusste gar nicht, wohin. Gut, dass alle anderen ihn in die Arme schlossen. Es war unwirklich. Wir eroberten jeden Ball, trafen jeden Schuss. Komplette Ekstase, Kopfschütteln, Fassungslosigkeit. Es war wie im Rausch. Eine Mannschaft, die am Boden lag und nicht mehr wollte, war plötzlich oben auf und komplett im Auffress-Modus. Glaube, Überzeugung, Bereitschaft, Schmerzpunkt überschreiten – es sind vermeintlich nicht viele Dinge, die es braucht, um erfolgreich Fußball zu spielen.
Zwei Minuten nach dem 7:5 flog der Vierfach-Torschütze für sein zweites Foul mit Gelb-Rot vom Platz. Unterzahl. Weiter Kampf. Einmal noch kam Wellingsbüttel außen durch. Die Hereingabe bugsierten wir uns in der zweiten Minute von fünf Zeigerumdrehungen Nachspielzeit selbst ins Tor. Es war der passende Abschluss eines denkwürdigen Spiels.
Irre Emotionen
Als der Schiedsrichter endlich abpfiff, rannten wir aufs Feld. Ich sah meinen Kapitän. 14 Jahre machen wir schon zusammen Fußball. Ich gucke ihn immer als erstes an, wenn etwas Bedeutendes passiert. Er war fassungslos aber auch voller Freude. Eine völlig irre Emotion in seinem Gesicht. Denselben Ausdruck hatten auch alle anderen, die sich in einer Jubeltraube verschlungen. Der 30. Oktober 2021 wird immer in Erinnerung bleiben und erzählt die Geschichte einer Aufholjagd, zu der erst nicht geblasen wurde und die dann so furios war, dass alles möglich wurde. Fußball, du geile Sau!
Eine Antwort auf „Von 1:5 in ein 7:5 – Fußball, du geile Sau!“