Ich treffe Trainer Marc Fischer vom Ratzeburger SV
Es ist Freitagnachmittag. Die Uhr zeigt 14:26 Uhr, als ich mich in mein Auto setze. Es ist soweit: Ich starte meine Tour durch die Bundesrepublik, um in ganz Deutschland Gleichgesinnte zu treffen. Trainer, die sich dem Amateurfußball verschrieben haben, die ihre Freizeit für ein paar Euro Aufwandsentschädigung auf dem Fußballplatz verbringen. Ich will ihre Geschichte erzählen, weil sie zu selten erzählt wird. Ich bin aufgeregt. Ich weiß zwar, wo mich meine Reise hinführen soll, aber ich kann noch nicht vorhersehen, ob sie es auch wird. Ich fahre los und meine Spotify-Playlist spielt „Nada Ha Cambiado“ von Manuel Turizo. „Nichts hat sich geändert“, heißt der Songtitel aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt. „Doch“, denke ich, „mit diesem Schritt ändert sich Vieles“. Kilometer 1.
Das Ziel der 1. Etappe ist das schöne Ratzeburg in Schleswig-Holstein. Etwas mehr als 70 Kilometer entfernt. Dort bin ich mit Marc Fischer verabredet, Trainer des Ratzeburger SV, der aktuell in der Kreisliga Lübeck beheimatet ist. Es geht mühsam durch den zähen Hamburger Stadtverkehr. Ich kämpfe mich durch Staus in Hamburg-Barmbek, schleppe mich im Schritttempo Richtung Horner Kreisel und biege auf die A24. Endlich läufts. Kurz noch eine Info mit der vom Navi vorhergesagten Ankunftszeit an meinen heutigen Gesprächspartner, und Fuß aufs Gaspedal.
Bei der Fahrt über Autobahn und Landstraße denke ich an meine Anfänge als Trainer. An die Mensa des Gymnasiums Ohmoor, in der mein Kumpel damals fragte, ob ich die Schulmannschaft mit ihm trainieren wolle, an das erste Training mit den Bambinis auf dem Gummiplatz am Sportplatz Sachsenweg und an die Unbeschwertheit des Trainerdaseins zu der damaligen Zeit. Mein Blick schweift nach rechts ab, während ich nachdenke. „Breitenfelde“ steht auf einem gelben Ortschild am Straßenrand und Erinnerungen werden wach. „Hier war ich mal auf auf einem Turnier mit meiner Jugendmannschaft“, denke ich. Es sind schöne Erinnerungen.
Blind Date und plantschende Enten
Es hat etwas leicht majestätisches, wenn man in Richtung Ratzeburger Altstadt einbiegt. Vorbei an einer etwas in die Jahre gekommenen Tankstelle führt der Weg auf einen Damm über das Gewässer. Hier ist so viel Wasser, dass ich immer noch nicht ganz genau weiß, was davon jetzt der Ratzeburger See ist und was nicht. Der Damm führt auf die Insel mit Altstadt, Ratzeburger Dom, zahlreichen Fachwerkbauten, Kopfsteinpflasterstraßen und Marktplatz. Hier bin ich mit Marc Fischer verabredet. Er hatte sich auf mein Trainergesuch gemeldet. Wir kannten uns vorher nicht und haben vielleicht fünf oder sechs Nachrichten ausgetauscht. Es hat den Charakter eines Blind Dates.
Ich parke meinen Wagen, ziehe einen Parkschein und gehe zum Marktplatz. Wir erkennen uns sofort, begrüßen uns und machen uns auf den Weg durch die Ratzeburger Altstadt. Marc ist um die 1,70 Meter groß, hat eine sportliche Figur, rasierte Haare, Dreitagebart, immer funkelnde Augen und ein selbstbewusstes Lächeln auf den Lippen. Marc erzählt von seiner Beziehung zur Stadt, dass er sich hier schon immer wohlgefühlt hat, die meisten seiner Freunde geblieben sind und er nie einen Grund gesehen hat, Ratzeburg zu verlassen. Und dann ist da natürlich auch der Fußball. Es dauert keine fünf Minuten, bis wir persönliches Vorgeplänkel gegen unser beider Lieblingsthema tauschen.
Der Himmel überm Ratzeburger See ist zwar grau, aber es fällt kein Regen hinab. Wir spazieren am Ufer entlang, neben uns plantschen Enten im kalten Wasser. Marc und ich sprechen über Trainerausbildung und Lehrgänge – seine DFB-Elite-Jugend-Lizenz hat er in Malente erfolgreich absolviert – über unser beider Werdegänge und über Strukturen in Vereinen. Wir entdecken viele Parallelen. Auch Marc ist Jahrgang 1988, begann 2006 als Jugendtrainer und engagiert sich über seine Tätigkeit als Trainer hinaus im Verein. Er sitzt sogar im Vorstand des Ratzeburger SV, hat ein neues Nachwuchskonzept entworfen, nach dem beim RSV mit Jugendlichen gearbeitet wird, und er trainiert eben auch die 1. Herren des Vereins.
Es ist verblüffend: Zwei Menschen, die sich nie zuvor gesprochen, geschweige denn gesehen haben, plaudern ohne Pausen einfach munter drauf los. Während wir zurück zum Marktplatz spazieren, verliere ich mich kurz in Gedanken: „Es ist richtig, dieses Projekt in Angriff genommen zu haben“, denke ich, „es ist einfach richtig.“
Trainer-Kosmos und Realität
Nach kurzer Fahrt komme ich beim Riemann-Sportplatz an. Ich fühle mich an frühere Ausfahrten ins Trainingslager als Jugendspieler erinnert. Hinter dem kleinen Parkplatz liegt das Hauptgebäude. Vereinsheim, Fitness- und Kursräume, Kegelbahn, Umkleidetrakt alles in rotem Backstein. Marc war noch schnell bei sich zu Hause, um seine Sporttasche zu packen. Schließlich ist für den Abend noch Training angesetzt. Er wartet in der hintersten Ecke der Vereinsgastronomie. Es riecht nach Frittenfett. „So muss ein Vereinsheim duften“, denke ich und freue mich schon auf die Currywurst, die ich hier später bestellen werde. Der Gastwirt hat sich größte Mühe gegeben, das altbackene Drumherum des Gebäudes modern einzurichten. Das ist ihm irgendwie auch gelungen, wenn man von der übriggebliebenen Weihnachtsdeko und einem fürchterlichen Mops aus Ton absieht. Marc bestellt Wasser und Spezi, ich lege mein Diktiergerät auf den Tisch.
Marc berichtet von seinem Werdegang. Er erzählt, wie der frühere Jugendwart einst zum Training von seiner Mannschaft kam und einfach fragte, ob einer von ihnen Lust hätte, eine Nachwuchsmannschaft zu trainieren. Marc, damals jüngerer A-Jugendspieler, hatte noch nie so wirklich darüber nachgedacht, aber spürte sofort einen Drang und sagte zu. Gemeinsam mit einem Kumpel, der heute übrigens wieder sein Co-Trainer der 1. Herren ist, legte er los. Fast 14 Jahre später ist Marc immer noch im Verein, hat diesen nach seinen Vorstellungen verändert und geprägt. Seine eigenen Fußballschuhe hat er vor knapp zwei Jahren an den Nagel gehängt, als er Trainer der 1. Herren wurde. Nur ab und zu kickt er sonntagvormittags noch bei der dritten Mannschaft mit.
Wenn Marc über Fußball spricht, ist er in einem Rausch. Seine ohnehin schon leuchtenden Augen glänzen noch mehr, sein Gesicht verrät seine gesamte Leidenschaft. Er lächelt fast durchgehend, während wir uns unterhalten. Immer wieder gestikuliert er wild, um das Gesagte zu unterstützen. Er spricht von Pep Guardiola und Jürgen Klopp, von Ballbesitz und Pressing. Hin und wieder kommen Leute an unseren Tisch, begrüßen ihn, schütteln auch mir die Hand, immer freundlich, immer mit einem „Moin“ auf den Lippen. Irgendwann kommen auch zwei Spieler zu uns. „Heute doll oder eher weniger?“, fragen sie. Als Marc antworten will, wird schnell klar, dass sie weniger das bevorstehende Training als den Mannschaftsabend im Anschluss meinen. Ich kenne diese Fragen nur zu gut. Wir müssen lachen.
Die ohnehin schon äußerst gute Gesprächsatmosphäre erreicht ihren Höhepunkt aber erst, als Marc sein iPad zückt und mir von seiner Datenerfassung berichtet. Periodisiertes Training, Trainingsbeteiligung, ein paar Statistiken – das kenne ich von mir, aber Marc bringt mich ins Staunen. Er führt Statistiken über jede Torchance eines jeden Spiels und ermittelt dadurch die sogenannten „Expected Goals“ (xG). Ort auf dem Spielfeld, Körperteil – alles wird erfasst. Auch jedes Gegentor wird aufgezeichnet, jedes verhinderte Gegentor ebenfalls. Jeder Block, jede Parade – es ist Wahnsinn. Datenanalyse vom Feinsten – und das in der 8. Spielklasse.
Marc schwärmt, ich bin beeindruckt. Ich dachte immer, ich sei bekloppt in Sachen Fußball, aber dieser Trainer hebt das alles auf eine andere Ebene. Während ich nicht aus dem Staunen herauskomme, denke ich an den Kontrast zwischen dem, was Marc hier an Zeit und Hingabe investiert und dem, was von der Mannschaft zurückkommt. Neun Spieler haben sich für das Training, eine lange geplante Hinrundenanalyse und den anschließenden Teamabend angekündigt. 12-14 kommen im Schnitt zu den Einheiten. „Ist doch eine gute Anzahl“, sagt Marc und ich staune wieder. Über seinen Optimismus, über seine Leidenschaft und über seine Einstellung. „Ich mache das ja auch für mich. Es macht mir Spaß und ich habe durch die vielen Daten immer neue Ansätze, wie wir uns verbessern können“, sagt er.
Während Marc mir weiter seine zahlreichen Excel-Tabellen zeigt, wird mir bewusst, dass dieser Mann für Höheres bestimmt ist, dass er ein Feuer hat, das so lichterloh brennt, dass es ihn weit über Ratzeburg hinausbringen wird. Er selbst will in Ratzeburg noch etwas „zu Ende bringen“. Zwei Aufstiege sollen es werden in nächster Zeit. Und ja, irgendwann könne er sich andere Aufgaben vorstellen. Regionalliga wäre ein Traum. Ich habe keinerlei Zweifel, dass er sich diesen Traum erfüllen kann.
Training und Currywurst/Pommes
Doch noch steckt er in der Gegenwart. Es ist kurz vor 19 Uhr und er muss sich für das Training fertigmachen. Er zeigt mir den Kabinentrakt, gestrichen in den roten Vereinsfarben des RSV. Überall an der Wand hängen Schilder mit Motivationssprüchen, alles in der Schrift, die auch auf den Trainingsklamotten des Vereins verwendet wird. Marcs Idee – keine Überraschung. Er tauscht Bolzplatzkind-Hoodie mit Nike-Trainingsanzug. Aus der Spielerkabine tönt laute Techno-Musik, bis der letzte Spieler die Kabine Richtung Trainingsplatz verlässt.
Das Sportgelände ist wie das Vereinsheim: ein Mix aus Vergangenheit und Gegenwart. Auf der linken Seite das alte Stadion mit Laufbahn, in der Mitte ein kleiner moderner Kunstrasen und auf der rechten Seite etwas erhöht ein Trainingsplatz mit Naturrasen. Marc erzählt, dass sein RSV zu den ganz wenigen Vereinen der Region Lauenburg gehört, die über einen Kunstrasenplatz verfügen. Unvorstellbar für uns Städter, nicht ganzjährig problemlos trainieren und spielen zu können.
Das Training beginnt. Ich nehme auf einer selbstgebauten, sehr geräumigen Holzauswechselbank Platz. Erst Rondo mit sieben gegen zwei, dann Lauf-ABC, Aktivierung und Mobilisation. Marc gibt Kommandos. Ihn stört die Trainingsbeteiligung spürbar nicht. Auch den Jungs macht es nichts aus. Sie kennen die Situation. Jahr für Jahr zieht es junge Spieler zum Studieren in die umliegenden Städte Lübeck, Kiel oder Hamburg. Ein Zustand, an den man sich beim Ratzeburger SV gewöhnt hat.
Als mir kalt wird, zieht es mich zurück in die Gaststätte. Schließlich habe ich hier noch ein Date mit einer Currywurst. Ich setze mich an denselben Tisch wie zuvor. Die leere Wasserflasche und auch die Speziflasche stehen noch dort. Auch die Currywurst muss leider warten. Die Alte Herren des RSV hat Griechischen Abend mit Gyros, Tzatziki und Ouzo. Die Küche kommt an ihre Grenzen. „Eine Stunde warten“ berichtet mir die junge Bedienung. Ich nehme die Wartezeit in Kauf, mache mir Notizen über Marc und denke nach. Doch aus dem Nichts kommt plötzlich die Currywurst an meinen Platz. Die Pommes stapeln sich auf dem Teller. Ich rieche das Fett. Herrlich. Ich bedanke mich beim Gastwirt für das Entgegenkommen und verputze langsam und genüsslich mein Abendessen, während Marc seine neun Spieler über den Platz dirigiert.
Schwarzbrot und Bockwurst
Frisch geduscht nehmen die Spieler nach und nach im Besprechungsraum Platz. Tische in U-Form aufgestellt, Beamer, Holzstühle. Grau-und Schwarzbrot, Aufschnitt und Bockwurst stehen ebenso bereit wie Cola und Bier. Nicht alle haben es vom Trainingsplatz zur Hinrundenanalyse geschafft. Einige hatten andere Pläne, dafür sind verletzte Spieler dazugekommen. Insgesamt aber immer nur noch neun Spieler, die einer unglaublich detaillierten Präsentation des Trainers lauschen.
Fünf Stunden Arbeit hat diese das Trainerteam gekostet, erzählt mir Marc auf dem Weg zum Raum, und nur ein Drittel der Mannschaft wird sie hören. „Da wird wohl mal wieder eine Ansage fällig“, sagt er zu mir. Das erste Mal an diesem Tag wird deutlich, dass er sich schon manchmal wünscht, dass seine Spieler seinem Anspruch mehr gerecht werden. Ich kenne dieses Gefühl. Es ist ein merkwürdiges Empfinden. Auf der einen Seite kann man seine eigene Besessenheit nicht auch von Amateurfußballern einfordern, auf der anderen fühlt man sich als Trainer doch manchmal alleine im Regen stehen gelassen.
Als auch der letzte Spieler frischgeduscht die Tür des Besprechungsraums öffnet und sich setzt, geht es los. Marc analysiert und präsentiert, als wenn vor ihm 20 Spieler sitzen würden. Beeindruckend. Klare Rhetorik, klare Vorstellungen. Das Team lauscht und mampft und trinkt, bis die Präsentation von Marc und seinem Co-Trainer zu Ende ist. Zum Abschluss werden noch Ämter verteilt. Es gibt ein Amt für Bier, für Feierei, für die Kabine, für Shampoo, für die Mannschaftskasse und die Musik. Es wird gelacht und diskutiert, weitere Biere werden geöffnet und der Mannschafts-DJ koppelt sein Handy mit einem fetten, basslastigen Lautsprecher. Wieder läuft Techno.
Zeit für mich zu gehen. Ich bedanke mich bei Marc für die Einblicke in seine Trainerwelt, verabschiede mich mit einem Klopfen auf den Tisch bei der Mannschaft und stapfe in die Dunkelheit Richtung Parkplatz. 22:30 Uhr steht auf der Uhr meines Autos. Es geht nach Hause. Jetzt spielt Spotify „How To Save A Life“ von The Fray. Und während ich durch die Nacht fahre, spüre ich, dass dieses Projekt mein Leben „retten“ wird, dass ich endlich wieder für meine Arbeit brennen werde. Ich singe mit, bei diesem und bei allen folgenden Liedern, bis ich zu Hause ankomme und die 1. Etappe Geschichte ist. Kilometer 145.