Wie der Fußball an Bedeutung verliert

Ich muss ehrlich gestehen: Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass der Fußball mir einmal ferner sein könnte. Vor wenigen Tagen noch kritzelte ich eine mögliche Aufstellung für das Wochenende in mein Notizbuch, plante das nächste Training und nur wenige Stunden später war es für mich undenkbar, überhaupt ein weiteres Training geschweige denn ein Punktspiel durchzuführen. Noch vor etwas mehr als einer Woche standen wir auf dem Platz und spielten um weitere Zähler in der Bezirksliga. Wie weit weg ist das auf einmal, wie egal ist das auf einmal, wie wenig interessiert mich aktuell der weitere Saisonverlauf?

Als am Freigagmittag die offizielle Absage des Verbandes für drei Spieltage kam, hatten wir unser anstehendes Spiel bereits eigenständig abgesagt. Nur zwei Tage nach dieser Absage verlängerte die Stadt Hamburg per Allgemeinverfügung das Sportverbot um einen Monat bis zum 30. April. Wie dynamisch diese Situation ist, hätte vor einer Woche kaum einer für möglich gehalten. Noch nie habe ich meine eigene Meinung binnen so kurzer Zeit so radikal geändert wie in Bezug auf das Coronavirus.

Wie eine Winterpause

Eine Fortführung der Saison halte ich für undenkbar, weil überhaupt nicht vorherzusehen ist, wie die Entwicklung weiter verläuft, wie es im Mai oder Juni aussieht. Dazu kommen die Terminengpässe. Außerdem: Bis zum 30. April vergehen rund sechs Wochen, das ist wie eine Winter- oder eine lange Sommerpause. Kein Spieler kann sich in den eigenen vier Wänden so fithalten, dass er danach direkt wieder spielen sollte. Vor allem, wenn er dann dreimal die Woche spielen müsste. Aber das sind nur Gedanken über unwichtige Dinge. Und eigentlich ist es mir aktuell auch ziemlich egal.

Für mich persönlich bedeutet die fußballfreie Zeit, dass ich meine Reise durch Deutschland vorerst unterbrechen muss, dass ich nicht weiter Trainergeschichten erzählen kann. Immerhin: Meinen Besuch bei Stefan Rosenthal, Trainer des FC Sulingen, habe ich noch im Köcher.

Sagt Danke und haltet euch an anweisungen

Aber das ist insgesamt alles nichtig. Großes Danke an alle Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger, an alle systemrelevanten Arbeitskräfte, die eine Grundversorgung ermöglichen und an alle nervenstarken Supermarktangestellten. Ich appelliere an alle, sich an Anweisungen der Behörden zu halten, keine geheimen Trainings irgendwo abzuhalten und sich nicht zum Fußballspielen zu treffen. Jeder trägt in dieser Phase eine Verantwortung für seine Mitmenschen. Bleibt zu Hause, meidet Sozialkontakte und hört auf, euch mit Klopapier einzudecken.

Und noch eine Ergänzung: Wie sich der Profifußball, insbesondere die Funktionäre derzeit präsentieren, ist mit gesundem Menschenverstand nicht mehr nachzuvollziehen. Hier gilt es, vorbildhaft voranzugehen und nicht weiter trainieren zu lassen, sich bei einer DFL-Konferenz Schulter an Schulter zu zeigen oder mit laienhaften Aussagen in der Sportschau über alle Dinge zu stellen.

2. Etappe: Von Hamburg nach Berlin – Der Menschenfänger an der Seitenlinie

Ich treffe Trainer Benedetto Muzzicato vom FC Viktoria 1889 Berlin

Die Scheiben meines Autos sind mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Ich muss tatsächlich kratzen, bevor ich losfahre. In diesem Winter eine Seltenheit. Es ist noch nicht einmal 8 Uhr in der Früh, absolut nicht meine Zeit. Müde steige ich in meinen Wagen und gebe im Navi die Zieladresse ein: Malteserstraße, Berlin. 3:30 Stunden Fahrtzeit. Es geht in die Hauptstadt zu Benedetto Muzzicato, Übungsleiter des Regionalligisten Viktoria Berlin. Etappe 2, Gesamtkilometer 146.

Hoffnung und Melancholie

Wie schon bei der ersten Tour nach Ratzeburg führt mich mein Weg durch den Hamburger Berufsverkehr Richtung Horner Kreisel. Die Musik bleibt dieses Mal noch aus. Ich kämpfe mit der frühen Stunde. Doch als ich in Winterhude an der Dorotheenstraße vorbeifahre, ist mein Geist plötzlich hellwach. Hier erfüllte sich meine Mutter einst ihren Traum, bezog mit Ende 40 als frisch studierte Mediatorin ihr erstes eigenes Büro. Aus unterschiedlichen Gründen zerplatzte dieser Traum viel zu schnell. Mir wird bewusst, dass ich wie meine Mutter nach Erfüllung strebe, dass ihre Wünsche auch in mir stecken. Ich weiß, dass ich viel investieren muss, um meine Träume zu verwirklichen, auch für meine Mutter. Mich rühren die Erinnerungen an die Büroeinweihung und die damalige Zeit. Vieles vergeht. Etwas Bleibendes zu schaffen, ist niemals leicht.

Ich überquere die alte innerdeutsche Grenze in Gudow. Mittlerweile läuft auch wieder Musik. „Zwischen Hoffnung und Melancholie“ von Disarstar. Die Sonne versucht sich durch die Wolken zu kämpfen. Doch nicht nur wegen des Songtitels bin ich nachdenklich. Wieder erinnere ich mich an etwas, wieder inspiriert es mich. Disarstar bringt gerade sein neues Album heraus, einst saß ich neben ihm am Schreibtisch seines Kinderzimmers als Nachhilfelehrer. Er gehört zu denjenigen, die ihren Weg gegangen sind, war er noch so weit, noch so steinig. Er hat sich seinen Traum erfüllt und macht Musik, hat sein Talent genutzt. Ich bewundere Menschen, die gegen alle Widerstände ankämpfend ihren Platz in dieser verrückten Welt gefunden haben.

Schneeregen und Begegnungen am Zaun

Nach einem kurzen Ausflug über die Brandenburger Dörfer führt mich mein Weg hinein nach Berlin. Direkt an einer vierspurigen Hauptstraße liegt der heutige Trainingsplatz von Viktoria. Wohnhäuser auf der einen, Parkanlage auf der anderen Seite und dazwischen ein eingezäunter Rasenacker. Schräg gegenüber auf dem Gelände des BFC Preussen nahm ich vor Jahren als Trainer mit meiner Nachwuchsmannschaft an einem Turnier teil. Doch bevor ich in weiteren Erinnerungen versinke, steige ich aus und gehe die wenigen Meter zum Trainingsplatz. Schneeregen fällt vom Himmel. Es ist nasskalt und nur ein Schirm bewahrt mich vor Schlimmerem.

Es ist eine merkwürdige Szenerie, denke ich, als ich am Zaun entlang spaziere. Hier trainiert ein ambitionierter Regionalligist um 11 Uhr vormittags auf einem fremden Platz. Auf dem Feld stehen nur Spieler, die mit Fußball auch ihren Lebensunterhalt verdienen. Nach Definition sind es Profis. Professionelle Bedinungen sind aber keine gegeben. Die Schwierigkeiten der Regionalliga-Klubs werden deutlich. Der Sprung in die 3. Liga, also ins offizielle Profitum, scheint ein großer. „Scouts müssen sich anmelden.“ Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Es ist ein Spieler, der mich durch den Zaun hindurch anspricht. Ich bin total perplex und stammele vor mich her, dass ich kein Scout bin, sondern mit dem Trainer verabredet sei. Der Spieler wiederholt sich: „Im Ernst, Scouts müssen sich anmelden.“ Dann fängt er an zu grinsen und ich realisiere, dass er sich einen Scherz erlaubt hat. Während ich verlegen lächle, versinke ich vor Scham unter meinem Schirm. „Manchmal bin ich echt leicht zu verarschen“, denke ich und beobachte weiter das Treiben.

Zwischen zwei Übungen stapft ein mittelgroßer, gutgebauter Mann mit Mütze Richtung Zaun. Den klaren Anweisungen während der Spielform zuvor zufolge ist das mein heutiger Gesprächspartner Benedetto Muzzicato. „Jan-Hendrik?“, fragt er kurz. „Moin, Muzzi“, antworte ich. Wir stecken jeweils unsere rechte Hand durch den Bauzaun und begrüßen uns. Dass ich ihn, ohne vorher ein Wort persönlich mit ihm gewechselt zu haben, direkt mit seinem Spitznamen begrüße, hat einen Grund. Ein Freund von mir, dessen Sohn ich seit über zehn Jahren trainiere, ist Benedettos Berater und war schon als solcher tätig, als Muzzi noch selbst als Spieler aktiv war. Von „Muzzi“ hatte ich also schon vieles gehört.

Bevor ich diese und weitere Geschichten mit ihm vertiefe, jagt Benedetto seine Spieler noch ein paar Minuten über den seifigen Rasen. Drei gegen zwei nach Trainerzuspiel auf ein Großtor und zwei Kontertore. Die Stimmung ist gut, das Tempo hoch, der Torabschluss nicht immer genau, aber es wird viel gelacht und bei Toren auch gejubelt. Nicht nur einmal rutscht ein Spieler auf seinen Knien zu mir Richtung Zaun, bis das Training zu Ende ist und alle klitschnass Richtung Kabine trotten. „Wir treffen uns gleich in der Geschäftsstelle“, gibt Muzzi mir noch mit, ehe er sich durchgefroren auf den Weg unter die Dusche macht. Während ich am Zaun entlang zurück zu meinem Auto gehe, sammeln zwei Spieler noch die Spielfeldmarkierungen ein und kämpfen dabei mit ihren halberfrorenen Fingern. Ein Hauch von Kreisklasse in der semiprofessionellen Regionalliga. Erfrischend.

Alte Dame und junger Mann

In der Geschäftsstelle empfängt mich ein Berliner Original. Sein Name ist Marc. In bestem Berliner Dialekt quatscht er mit mir sofort über Fußball. Als ich ihm erzähle, dass ich gerade an einem Buch über Trainer arbeite, geht er mit mir seine persönliche Empfehlungsliste für Fußballbücher durch. Ein authentischer Typ, der Fußball liebt. Sympathisch. Das Gebäude der Geschäftsstelle ist hochmodern und spiegelt den Anspruch des Klubs deutlich besser wider als der seifige Trainingsplatz des Nachbarvereins. Vom Empfangstresen aus blicke ich auf das Gelände des FC Viktoria 1889 Berlin. Vor mir liegen zwei Kunstrasenplätze, eine große Rasenfläche, die „nur von den ganz Kleinen genutzt wird“, wie mir Benedetto später erklärt, und weiter hinten erkennt man vor allem aufgrund der riesigen Flutlichtmasten das Stadion Lichterfelde, in dem Viktoria seine Heimspiele austrägt, aber eben gerade im Winter nicht oft trainieren kann.

Als sich mein Blick wieder auf die Einrichtung der Geschäftsstelle konzentriert, fällt mir sofort etwas auf. Auf einem großen Plakat gegenüber vom Empfangsthresen steht geschrieben: „Berlins wahre alte Dame heißt Viktoria. Seit 1889.“ Der Slogan ist nicht nur eine kleine Spitze gegen Bundesligist Hertha BSC, der in der Fußballwelt als „Alte Dame“ bezeichnet wird, sondern formuliert auch das eigene Selbstverständnis als Traditionsverein und zweifacher Deutscher Meister Anfang des 20. Jahrhunderts.

Als Benedetto frischgeduscht und in Freizeitklamotten die Geschäftsstelle betritt, gibt es erst einmal eine herzliche Begrüßung mit Marc. Schon auf dem Trainingsplatz war mir schnell klar geworden, dass Muzzi auf seine Mitmenschen eine extrem ansteckende, positive Wirkung hat. Als ich ihn ohne Mütze sehe, fällt es mir schwer zu glauben, dass er schon 41 Jahre alt ist. Glatte, leicht gebräunte Haut, durchtrainierter Körper, hippe Brille, sportlich moderne Kleidung – Muzzi sieht nicht nur im Gesicht so jung aus wie seine Spieler, sondern kleidet sich auch so. Es ist aber vor allem seine Ausstrahlung, die seine Mitmenschen in seinen Bann zieht. Mein Kumpel und Benedettos Berater sagte schon einmal zu mir, dass „der Muzzi ein Menschenfänger sei“. Es wird schnell deutlich, was er damit meinte.

Oberneuland und Werder Bremen

Wir nehmen im Konferenzraum Platz. Anders als gedacht haben wir doch mehr Zeit für unser Gespräch. Die zweite an diesem Tag angesetzte Trainingseinheit hat Benedetto wetterbedingt vom Trainingsplatz ins Fitnessstudio verlegt. Dort übernimmt am Nachmittag sein Athletiktrainer. Nur wenige Minuten, nachdem ich mein Diktiergerät zwischen uns auf dem Tisch platziert habe, klopft es an der Tür. Kameramann, PR-Mitarbeiterin und Spieler müssen noch ein kurzes Video für Social Media drehen.

Benedetto berichtet von seinem Werdegang. Im Eiltempo von nur sechs Jahren hat er sämtliche Erfahrungen gesammelt und seine B-, Jugend-Elite- und A-Lizenz gemacht. Angefangen hat alles mit einem Anruf seines Bruders Ende 2013. „Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm die U17 des FC Oberneuland in der Rückrunde coachen möchte“, erinnert sich Muzzi. Er selbst ließ damals seine bewegte Laufbahn auf den Amateurplätzen Bremens und Niedersachsens ausklingen und hatte noch nicht viel darüber nachgedacht, selbst einmal Trainer zu sein.

Trotz aussichtsloser Lage im Abstiegskampf der B-Regionalliga nahm Muzzi den Job nach kurzer Stippvisite an. Den Abstieg konnte er als Trainer zwar nicht verhindern, aber er impfte seiner Mannschaft, die zuvor fast jedes Spiel verloren und vier Übungsleiter in der Hinrunde verschlissen hatte, eine neue Mentalität ein. Es folgten deutlich mehr Punkte als in der ersten Saisonhälfte. Das bessere Auftreten seiner Mannschaft sprach sich rasch herum. Plötzlich klopfte das Nachwuchsleistungszentrum des SV Werder Bremen an. Ausgerechnet Werder.

Als Muzzi anfängt, über sein Werder Bremen zu sprechen, verändert sich etwas bei ihm. Er wird emotionaler. Ich spüre, dass dieser Verein ihm unglaublich viel bedeutet und als er weiter erzählt, wird mir schnell klar, wieso. Bei Werder Bremen durchlief Benedetto sämtliche Juniorenmannschaften. Eine Profikarriere wurde ihm prophezeit, doch er packte es im ersten und auch einige Jahre später im zweiten Anlauf nicht, sich durchzusetzen. Ganz im Gegenteil: Er eckte mit vielen an, sorgte immer wieder abseits des Platzes für Schlagzeilen. Der Rote Faden seiner aktiven Laufbahn.

Damals konnte sich keiner einen Trainer Muzzicato vorstellen und nun saß er plötzlich mit der Leitung des Nachwuchsleistungszentrums zusammen und diskutierte mögliche Trainerposten. Als Co-Trainer der U15 unter dem heutigen Proficoach Florian Kohfeldt sollte er arbeiten. Dafür musste er nur noch Kohfeldt selbst von sich überzeugen. Es gelang. Und als Kohfeldt ab Herbst nicht nur jede Woche für ein paar Tage zum DFB-Fußballlehrerlehrgang nach Hennef musste, sondern auch als Assistent von Viktor Skripnik zu den Profis aufstieg, stand Benedetto plötzlich gemeinsam mit einem weiteren Co-Trainer in der Verantwortung der U15 Werder Bremens.

Trotz erfolgreicher Saison mit der Vizemeisterschaft hinter dem FC St. Pauli und weit vor dem HSV zog es Muzzi wieder weg von Werder. „Ich habe gemerkt, dass es mich nicht so sehr reizt, mit Jugendlichen zu arbeiten“, sagt er heute. Der FC Oberneuland war auf der Suche nach einem Trainer für die 1. Herrenmannschaft. Muzzi sagte zu, stieg mit dem FC in die Bremenliga auf, schloss sich dann direkt dem TB Uphusen aus der Oberliga Niedersachsen an, rettete den Klub vor dem Abstieg und machte nach der Sommervorbereitung der Folgesaison bereits den nächsten Schritt. Regionalliga, BSV Schwarz-Weiß Rehden. Nur dreieinhalb Jahre hatte er dafür gebraucht. In Rehden übernahm er einen Schleudersitz. Zahlreiche Trainer hatten sich hier versucht. Benedetto Muzzicato schlug ein. Mit fünf Punkten nach neun Spieltagen übernahm er das Zepter und holte in den folgenden 25 Partien noch 34 Zähler. Klassenerhalt. In der zweiten Saison führte Muzzi den Verein ins obere Mittelfeld der Liga und entschied sich im Sommer 2019 für das Abenteuer FC Viktoria 1889 Berlin.

Zukunft und Vergangenheit

„Bei Viktoria sind die Möglichkeiten größer. Die Spieler sind Profis, wir können vor- und nachmittags trainieren. Die Ambitionen des Klubs decken sich mit meinen. Das passt“, sagt Benedetto. Im März will er den Sprung in den DFB-Fußballlehrerlehrgang schaffen. Es ist der zweite Anlauf. Nur 24 Plätze vergibt der DFB pro Jahr. Wenn er in den ersten drei Bundesligen arbeiten will, muss er Fußballlehrer sein. Für mich ist klar, dass sein Weg hier in Berlin nicht endet, dass er bald die höchste Lizenz erlangen wird.

Wenn Muzzi über Fußball spricht, brennt er innerlich und äußerlich. Er versteht das Spiel, er hat es selbst gespielt. Doch bevor wir über die Lehren seiner gescheiterten Spielerlaufbahn für seine Tätigkeit als Trainer sprechen können, klopft es wieder an der Tür. Dieses Mal ist es der Videoanalyst. Die Zeit ist gerast. Nach und nach treffen die Spieler ein und nehmen für die angesetzte Videoanalyse Platz. Der Spieler, der mich am Vormittag geflachst hat, grinst mich an. Ich grinse zurück. Es ist Marcus Hoffmann, der Kapitän.

Während Muzzi seiner Mannschaft verschiedene Spielsituationen aus vergangenen Partien zeigt und immer wieder darauf hinweist, dass seine Spieler bestimmte Situationen besser erkennen und mehr agieren sollen, denke ich über den Trainer Benedetto Muzzicato nach, wie er in nur wenigen Jahren seinen Weg von der Landesliga in Bremen bis in die Regionalliga gegangen ist, wie er im Gegensatz zu den meisten anderen nicht die Route über die Nachwuchsleistungszentren der Bundesligaklubs gewählt hat und doch auf der Schwelle zum Profitrainer steht. Sein Weg ist eine Inspiration.

Am Konferenztisch sitzt unter anderem auch Cimo Röker, 94er Jahrgang, ehemaliger Nachwuchsspieler bei Werder Bremen. Gegen ihn und seine Mannschaft hatte ich einst mein erstes Spiel als richtiger Cheftrainer, als wir in der C-Regionalliga mit dem Niendorfer TSV an der Weser zu Gast waren. „Hätte ich mehr in meine Trainerlaufbahn investieren, einen Versuch wagen sollen?“, frage ich mich und stoße schnell auf die Antwort. Ich säße nicht hier und würde daran arbeiten, die einzigartigen Geschichten von anderen Fußballtrainern zu erzählen. Das ist das, was ich machen will. Das wird das sein, was bleiben wird.

Reue und Dankbarkeit

Die Spieler verlassen den Raum und machen sich auf den Weg ins Fitnessstudio. Muzzi und ich bleiben sitzen und setzen genau da an, wo wir aufgehört haben. Er plaudert von seiner Zeit als Spieler, davon dass Werders Trainerlegende Thomas Schaaf noch heute erzählt, dass er es hätte packen müssen, dass er das Talent hatte. Muzzi berichtet von seinen unzähligen Stationen, von seinem zweiten Versuch bei Werder, von seinem Rauswurf bei Union Berlin, wo mit Frank Wormuth nicht nur der langjährige Chefausbilder des DFB sein Trainer war, sondern dieser ihn nachhaltig geprägt hat. „Seine Art Fußballtaktik zu erklären, ist für mich bis heute einmalig“, sagt Muzzi.

Und während er so von seinen weiteren Stationen in Regional- und Oberliga berichtet, von seiner sich immer wiederholenden Rückkehr zum FC Oberneuland, zeigt er Reue. Ich spüre, dass er es als Spieler gerne gepackt, er es gerne allen und vor allem sich selbst bewiesen hätte. „Ich war ein Egoist, bin immer wieder angeeckt, hatte Probleme mit Trainern. Wenn ich heute alte Weggefährten treffe, fragen mich alle, wie ich denn bitte Trainer werden konnte“, erzählt Benedetto. „Du wärest nicht der Trainer, der du jetzt bist, wenn du nicht diese Erfahrungen gesammelt hättest“, sage ich ihm. „Ich weiß“, antwortet er und die Reue weicht der Dankbarkeit. Dankbarkeit für seine Vergangenheit. All seine Erlebnisse helfen ihm im Umgang mit seinen Spielern, seinem Staff, den Vereinsmitarbeitern. Der geplatzte Traum von der Profikarriere als Spieler ist sein Antrieb als Trainer. Er analysiert, er coacht, er strahlt Ruhe aus, er liest das Spiel und ist handlungsfähig. Dieses Mal will er es packen. Er wird es packen, da bin ich mir sicher. Und vielleicht nimmt er irgendwann in der Bundesliga als Cheftrainer auf der Bank von Werder Bremen Platz. Auch wenn dieser Gedanke kitschig sein mag, ich habe im Gefühl, dass es irgendwann wirklich so kommen könnte.

3-4-3 und Familie

Wir reden noch zwei Stunden über Fußball. Es geht um Antonio Conte, der in Muzzis Rangliste vor Jürgen Klopp und Pep Guardiola steht, aber auch um Taktik, Muzzicatos 3-4-3. Wir sprechen über zu früh zufriedene Talente, den deutschen Fußballnachwuchs, Muzzis italienische Wurzeln. Es geht aber auch um die Familie. Er erzählt von schwierigen Zeiten mit seinem Vater, der viel von ihm verlangte, von seinem Bruder Fabrizio, der ihm die Tür ins Trainergeschäft öffnete, von seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern, die noch immer in Bremen weilen. Der rasante Aufstieg von der Bremer Amateurklasse zum ambitionierten Berliner Regionalligisten hat seinen Preis. Nur an den seltenen freien Tagen bekommt er seine Liebsten zu Gesicht. Die Kinder sind in Bremen verwurzelt, gehen dort zur Schule, machen ihren Sport und fühlen sich dort wohl. Aber: Es funktioniert.

Wir könnten noch ewig weiter plaudern, doch jetzt stehen die nächsten Termine für Benedetto an. Die PR-Abteilung verlangt nach ihm, im Anschluss das Management, das den Kader für die kommende Saison planen will. Wir verabschieden uns, machen noch ein Foto vor dem Plakat mit der Spitze gegen die große Hertha und auf geht’s nach Hause.

Der Magen knurrt. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Auf dem Weg zur Autobahn mache ich einen ersten Stopp bei McDonald’s. Cola, zwei Doppelcheeseburger. Dann der zweite Stopp. Mein bester Freund war beruflich in Berlin und ich bin seine Mitfahrgelegenheit. Er fragt, wie es war und ich gerate ins Schwärmen. Der „Menschenfänger“ Muzzicato hat auch mich fasziniert. Er hat das gefunden, was von ihm bleiben wird. Die drei Stunden Heimfahrt vergehen wie im Flug. Etappenkilometer 622. Gesamtkilometer 767.

1. Etappe: Von Hamburg nach Ratzeburg – Meine Deutschland-Tour beginnt

Ich treffe Trainer Marc Fischer vom Ratzeburger SV

Es ist Freitagnachmittag. Die Uhr zeigt 14:26 Uhr, als ich mich in mein Auto setze. Es ist soweit: Ich starte meine Tour durch die Bundesrepublik, um in ganz Deutschland Gleichgesinnte zu treffen. Trainer, die sich dem Amateurfußball verschrieben haben, die ihre Freizeit für ein paar Euro Aufwandsentschädigung auf dem Fußballplatz verbringen. Ich will ihre Geschichte erzählen, weil sie zu selten erzählt wird. Ich bin aufgeregt. Ich weiß zwar, wo mich meine Reise hinführen soll, aber ich kann noch nicht vorhersehen, ob sie es auch wird. Ich fahre los und meine Spotify-Playlist spielt „Nada Ha Cambiado“ von Manuel Turizo. „Nichts hat sich geändert“, heißt der Songtitel aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt. „Doch“, denke ich, „mit diesem Schritt ändert sich Vieles“. Kilometer 1.

Das Ziel der 1. Etappe ist das schöne Ratzeburg in Schleswig-Holstein. Etwas mehr als 70 Kilometer entfernt. Dort bin ich mit Marc Fischer verabredet, Trainer des Ratzeburger SV, der aktuell in der Kreisliga Lübeck beheimatet ist. Es geht mühsam durch den zähen Hamburger Stadtverkehr. Ich kämpfe mich durch Staus in Hamburg-Barmbek, schleppe mich im Schritttempo Richtung Horner Kreisel und biege auf die A24. Endlich läufts. Kurz noch eine Info mit der vom Navi vorhergesagten Ankunftszeit an meinen heutigen Gesprächspartner, und Fuß aufs Gaspedal.

Bei der Fahrt über Autobahn und Landstraße denke ich an meine Anfänge als Trainer. An die Mensa des Gymnasiums Ohmoor, in der mein Kumpel damals fragte, ob ich die Schulmannschaft mit ihm trainieren wolle, an das erste Training mit den Bambinis auf dem Gummiplatz am Sportplatz Sachsenweg und an die Unbeschwertheit des Trainerdaseins zu der damaligen Zeit. Mein Blick schweift nach rechts ab, während ich nachdenke. „Breitenfelde“ steht auf einem gelben Ortschild am Straßenrand und Erinnerungen werden wach. „Hier war ich mal auf auf einem Turnier mit meiner Jugendmannschaft“, denke ich. Es sind schöne Erinnerungen.

Blind Date und plantschende Enten

Es hat etwas leicht majestätisches, wenn man in Richtung Ratzeburger Altstadt einbiegt. Vorbei an einer etwas in die Jahre gekommenen Tankstelle führt der Weg auf einen Damm über das Gewässer. Hier ist so viel Wasser, dass ich immer noch nicht ganz genau weiß, was davon jetzt der Ratzeburger See ist und was nicht. Der Damm führt auf die Insel mit Altstadt, Ratzeburger Dom, zahlreichen Fachwerkbauten, Kopfsteinpflasterstraßen und Marktplatz. Hier bin ich mit Marc Fischer verabredet. Er hatte sich auf mein Trainergesuch gemeldet. Wir kannten uns vorher nicht und haben vielleicht fünf oder sechs Nachrichten ausgetauscht. Es hat den Charakter eines Blind Dates.

Ich parke meinen Wagen, ziehe einen Parkschein und gehe zum Marktplatz. Wir erkennen uns sofort, begrüßen uns und machen uns auf den Weg durch die Ratzeburger Altstadt. Marc ist um die 1,70 Meter groß, hat eine sportliche Figur, rasierte Haare, Dreitagebart, immer funkelnde Augen und ein selbstbewusstes Lächeln auf den Lippen. Marc erzählt von seiner Beziehung zur Stadt, dass er sich hier schon immer wohlgefühlt hat, die meisten seiner Freunde geblieben sind und er nie einen Grund gesehen hat, Ratzeburg zu verlassen. Und dann ist da natürlich auch der Fußball. Es dauert keine fünf Minuten, bis wir persönliches Vorgeplänkel gegen unser beider Lieblingsthema tauschen.

Der Himmel überm Ratzeburger See ist zwar grau, aber es fällt kein Regen hinab. Wir spazieren am Ufer entlang, neben uns plantschen Enten im kalten Wasser. Marc und ich sprechen über Trainerausbildung und Lehrgänge – seine DFB-Elite-Jugend-Lizenz hat er in Malente erfolgreich absolviert – über unser beider Werdegänge und über Strukturen in Vereinen. Wir entdecken viele Parallelen. Auch Marc ist Jahrgang 1988, begann 2006 als Jugendtrainer und engagiert sich über seine Tätigkeit als Trainer hinaus im Verein. Er sitzt sogar im Vorstand des Ratzeburger SV, hat ein neues Nachwuchskonzept entworfen, nach dem beim RSV mit Jugendlichen gearbeitet wird, und er trainiert eben auch die 1. Herren des Vereins.

Es ist verblüffend: Zwei Menschen, die sich nie zuvor gesprochen, geschweige denn gesehen haben, plaudern ohne Pausen einfach munter drauf los. Während wir zurück zum Marktplatz spazieren, verliere ich mich kurz in Gedanken: „Es ist richtig, dieses Projekt in Angriff genommen zu haben“, denke ich, „es ist einfach richtig.“

Trainer-Kosmos und Realität

Nach kurzer Fahrt komme ich beim Riemann-Sportplatz an. Ich fühle mich an frühere Ausfahrten ins Trainingslager als Jugendspieler erinnert. Hinter dem kleinen Parkplatz liegt das Hauptgebäude. Vereinsheim, Fitness- und Kursräume, Kegelbahn, Umkleidetrakt alles in rotem Backstein. Marc war noch schnell bei sich zu Hause, um seine Sporttasche zu packen. Schließlich ist für den Abend noch Training angesetzt. Er wartet in der hintersten Ecke der Vereinsgastronomie. Es riecht nach Frittenfett. „So muss ein Vereinsheim duften“, denke ich und freue mich schon auf die Currywurst, die ich hier später bestellen werde. Der Gastwirt hat sich größte Mühe gegeben, das altbackene Drumherum des Gebäudes modern einzurichten. Das ist ihm irgendwie auch gelungen, wenn man von der übriggebliebenen Weihnachtsdeko und einem fürchterlichen Mops aus Ton absieht. Marc bestellt Wasser und Spezi, ich lege mein Diktiergerät auf den Tisch.

Marc berichtet von seinem Werdegang. Er erzählt, wie der frühere Jugendwart einst zum Training von seiner Mannschaft kam und einfach fragte, ob einer von ihnen Lust hätte, eine Nachwuchsmannschaft zu trainieren. Marc, damals jüngerer A-Jugendspieler, hatte noch nie so wirklich darüber nachgedacht, aber spürte sofort einen Drang und sagte zu. Gemeinsam mit einem Kumpel, der heute übrigens wieder sein Co-Trainer der 1. Herren ist, legte er los. Fast 14 Jahre später ist Marc immer noch im Verein, hat diesen nach seinen Vorstellungen verändert und geprägt. Seine eigenen Fußballschuhe hat er vor knapp zwei Jahren an den Nagel gehängt, als er Trainer der 1. Herren wurde. Nur ab und zu kickt er sonntagvormittags noch bei der dritten Mannschaft mit.

Wenn Marc über Fußball spricht, ist er in einem Rausch. Seine ohnehin schon leuchtenden Augen glänzen noch mehr, sein Gesicht verrät seine gesamte Leidenschaft. Er lächelt fast durchgehend, während wir uns unterhalten. Immer wieder gestikuliert er wild, um das Gesagte zu unterstützen. Er spricht von Pep Guardiola und Jürgen Klopp, von Ballbesitz und Pressing. Hin und wieder kommen Leute an unseren Tisch, begrüßen ihn, schütteln auch mir die Hand, immer freundlich, immer mit einem „Moin“ auf den Lippen. Irgendwann kommen auch zwei Spieler zu uns. „Heute doll oder eher weniger?“, fragen sie. Als Marc antworten will, wird schnell klar, dass sie weniger das bevorstehende Training als den Mannschaftsabend im Anschluss meinen. Ich kenne diese Fragen nur zu gut. Wir müssen lachen.

Die ohnehin schon äußerst gute Gesprächsatmosphäre erreicht ihren Höhepunkt aber erst, als Marc sein iPad zückt und mir von seiner Datenerfassung berichtet. Periodisiertes Training, Trainingsbeteiligung, ein paar Statistiken – das kenne ich von mir, aber Marc bringt mich ins Staunen. Er führt Statistiken über jede Torchance eines jeden Spiels und ermittelt dadurch die sogenannten „Expected Goals“ (xG). Ort auf dem Spielfeld, Körperteil – alles wird erfasst. Auch jedes Gegentor wird aufgezeichnet, jedes verhinderte Gegentor ebenfalls. Jeder Block, jede Parade – es ist Wahnsinn. Datenanalyse vom Feinsten – und das in der 8. Spielklasse.

Marc schwärmt, ich bin beeindruckt. Ich dachte immer, ich sei bekloppt in Sachen Fußball, aber dieser Trainer hebt das alles auf eine andere Ebene. Während ich nicht aus dem Staunen herauskomme, denke ich an den Kontrast zwischen dem, was Marc hier an Zeit und Hingabe investiert und dem, was von der Mannschaft zurückkommt. Neun Spieler haben sich für das Training, eine lange geplante Hinrundenanalyse und den anschließenden Teamabend angekündigt. 12-14 kommen im Schnitt zu den Einheiten. „Ist doch eine gute Anzahl“, sagt Marc und ich staune wieder. Über seinen Optimismus, über seine Leidenschaft und über seine Einstellung. „Ich mache das ja auch für mich. Es macht mir Spaß und ich habe durch die vielen Daten immer neue Ansätze, wie wir uns verbessern können“, sagt er.

Während Marc mir weiter seine zahlreichen Excel-Tabellen zeigt, wird mir bewusst, dass dieser Mann für Höheres bestimmt ist, dass er ein Feuer hat, das so lichterloh brennt, dass es ihn weit über Ratzeburg hinausbringen wird. Er selbst will in Ratzeburg noch etwas „zu Ende bringen“. Zwei Aufstiege sollen es werden in nächster Zeit. Und ja, irgendwann könne er sich andere Aufgaben vorstellen. Regionalliga wäre ein Traum. Ich habe keinerlei Zweifel, dass er sich diesen Traum erfüllen kann.

Training und Currywurst/Pommes

Doch noch steckt er in der Gegenwart. Es ist kurz vor 19 Uhr und er muss sich für das Training fertigmachen. Er zeigt mir den Kabinentrakt, gestrichen in den roten Vereinsfarben des RSV. Überall an der Wand hängen Schilder mit Motivationssprüchen, alles in der Schrift, die auch auf den Trainingsklamotten des Vereins verwendet wird. Marcs Idee – keine Überraschung. Er tauscht Bolzplatzkind-Hoodie mit Nike-Trainingsanzug. Aus der Spielerkabine tönt laute Techno-Musik, bis der letzte Spieler die Kabine Richtung Trainingsplatz verlässt.

Das Sportgelände ist wie das Vereinsheim: ein Mix aus Vergangenheit und Gegenwart. Auf der linken Seite das alte Stadion mit Laufbahn, in der Mitte ein kleiner moderner Kunstrasen und auf der rechten Seite etwas erhöht ein Trainingsplatz mit Naturrasen. Marc erzählt, dass sein RSV zu den ganz wenigen Vereinen der Region Lauenburg gehört, die über einen Kunstrasenplatz verfügen. Unvorstellbar für uns Städter, nicht ganzjährig problemlos trainieren und spielen zu können.

Das Training beginnt. Ich nehme auf einer selbstgebauten, sehr geräumigen Holzauswechselbank Platz. Erst Rondo mit sieben gegen zwei, dann Lauf-ABC, Aktivierung und Mobilisation. Marc gibt Kommandos. Ihn stört die Trainingsbeteiligung spürbar nicht. Auch den Jungs macht es nichts aus. Sie kennen die Situation. Jahr für Jahr zieht es junge Spieler zum Studieren in die umliegenden Städte Lübeck, Kiel oder Hamburg. Ein Zustand, an den man sich beim Ratzeburger SV gewöhnt hat.

Als mir kalt wird, zieht es mich zurück in die Gaststätte. Schließlich habe ich hier noch ein Date mit einer Currywurst. Ich setze mich an denselben Tisch wie zuvor. Die leere Wasserflasche und auch die Speziflasche stehen noch dort. Auch die Currywurst muss leider warten. Die Alte Herren des RSV hat Griechischen Abend mit Gyros, Tzatziki und Ouzo. Die Küche kommt an ihre Grenzen. „Eine Stunde warten“ berichtet mir die junge Bedienung. Ich nehme die Wartezeit in Kauf, mache mir Notizen über Marc und denke nach. Doch aus dem Nichts kommt plötzlich die Currywurst an meinen Platz. Die Pommes stapeln sich auf dem Teller. Ich rieche das Fett. Herrlich. Ich bedanke mich beim Gastwirt für das Entgegenkommen und verputze langsam und genüsslich mein Abendessen, während Marc seine neun Spieler über den Platz dirigiert.

Schwarzbrot und Bockwurst

Frisch geduscht nehmen die Spieler nach und nach im Besprechungsraum Platz. Tische in U-Form aufgestellt, Beamer, Holzstühle. Grau-und Schwarzbrot, Aufschnitt und Bockwurst stehen ebenso bereit wie Cola und Bier. Nicht alle haben es vom Trainingsplatz zur Hinrundenanalyse geschafft. Einige hatten andere Pläne, dafür sind verletzte Spieler dazugekommen. Insgesamt aber immer nur noch neun Spieler, die einer unglaublich detaillierten Präsentation des Trainers lauschen.

Fünf Stunden Arbeit hat diese das Trainerteam gekostet, erzählt mir Marc auf dem Weg zum Raum, und nur ein Drittel der Mannschaft wird sie hören. „Da wird wohl mal wieder eine Ansage fällig“, sagt er zu mir. Das erste Mal an diesem Tag wird deutlich, dass er sich schon manchmal wünscht, dass seine Spieler seinem Anspruch mehr gerecht werden. Ich kenne dieses Gefühl. Es ist ein merkwürdiges Empfinden. Auf der einen Seite kann man seine eigene Besessenheit nicht auch von Amateurfußballern einfordern, auf der anderen fühlt man sich als Trainer doch manchmal alleine im Regen stehen gelassen.

Als auch der letzte Spieler frischgeduscht die Tür des Besprechungsraums öffnet und sich setzt, geht es los. Marc analysiert und präsentiert, als wenn vor ihm 20 Spieler sitzen würden. Beeindruckend. Klare Rhetorik, klare Vorstellungen. Das Team lauscht und mampft und trinkt, bis die Präsentation von Marc und seinem Co-Trainer zu Ende ist. Zum Abschluss werden noch Ämter verteilt. Es gibt ein Amt für Bier, für Feierei, für die Kabine, für Shampoo, für die Mannschaftskasse und die Musik. Es wird gelacht und diskutiert, weitere Biere werden geöffnet und der Mannschafts-DJ koppelt sein Handy mit einem fetten, basslastigen Lautsprecher. Wieder läuft Techno.

Zeit für mich zu gehen. Ich bedanke mich bei Marc für die Einblicke in seine Trainerwelt, verabschiede mich mit einem Klopfen auf den Tisch bei der Mannschaft und stapfe in die Dunkelheit Richtung Parkplatz. 22:30 Uhr steht auf der Uhr meines Autos. Es geht nach Hause. Jetzt spielt Spotify „How To Save A Life“ von The Fray. Und während ich durch die Nacht fahre, spüre ich, dass dieses Projekt mein Leben „retten“ wird, dass ich endlich wieder für meine Arbeit brennen werde. Ich singe mit, bei diesem und bei allen folgenden Liedern, bis ich zu Hause ankomme und die 1. Etappe Geschichte ist. Kilometer 145.

Rivalen oder Kumpel? Beides!

Ich treffe Jan-Hendrik Haimerl – Trainerkollege, Sparringspartner, Gleichgesinnter

Es ist die hinterste und spärlich beleuchtete Ecke eines Schanzen-Lokals. Hatari Pfälzer Stube am Schulterblatt. Hier wartet Jan-Hendrik Haimerl auf mich, Trainer des HSV Barmbek-Uhlenhorst 2, Rivale, Trainerkumpel. Es ist das erste Mal, dass wir uns abseits eines Fußballplatzes sehen. Warum es so lange gedauert hat, wissen wir selber nicht genau. Seit längerer Zeit sind mehrminütige Sprachnachrichten als Wochenendzusammenfassung nach Spieltagen mehr Regel als Ausnahme. Auf der wackligen Bierzelt-Garnitur stehen Ketchup, Mayonnaise und Senf. Wir bestellen zwei Bier und Schnitzel mit Käsespätzle. Es dauert keine zwei Minuten und wir versinken in Geschichten des Hamburger Amateurfußballs.

Wir erinnern uns gut an unsere erste Begegnung. Anfang September 2014. Ich war damals noch Spielertrainer, meine Mannschaft gerade aufgestiegen. Haimerl saß bereits auf der Bank, allerdings als Co-Trainer. Nach Rückstand schieße ich das 1:1, wir gehen am Ende mit 1:7 unter. „Unser Trainer hat die Mannschaft damals vor dir gewarnt“, erinnert sich Haimerl. An der höchsten Pflichtspielpleite bis heute konnte das aber auch nichts ändern. Bei der Suche einer Antwort auf die Frage, warum das die Geburtsstunde einer langjährigen Rivalität war, können wir beide nur mutmaßen.

In den folgenden neun Aufeinandertreffen beißt sich BU 2 an uns die Zähne aus. Wir gewinnen vier Partien, spielen fünf Mal Unentschieden. Barmbek-Uhlenhorst ist dabei immer Favorit, wir jedes Mal der Außenseiter. Jedes Aufeinandertreffen erzählt seine eigene Geschichte und brennt sich in die Erinnerungen ein. „Zu Beginn der letzten Spielzeiten hat die Mannschaft immer das Ziel ausgegeben, Niendorf zu schlagen“, berichtet Haimerl. Ich weiß, dass dieses Ziel noch etwas drastischer formuliert wurde. Aus dem Angstgegner-Dasein machten sich meine Jungs regelmäßig ihre Scherze, äußerten diese unter anderem auch im Megapark auf Mallorca. Frotzeleien vor 5-Liter-Säulen. Das Bild kann man nicht malen.

Ich vermute, dass die Rivalität in der Ähnlichkeit der jeweiligen sozialen Strukturen begründet liegt. Beide Teams kommen jahrelang über die Geschlossenheit, „die Kabine“, wie es Haimerl formuliert. Eine gute Stimmung im Team zu haben, abseits des Platzes viel zu unternehmen und am Ende der Saison auf Mallorca zu feiern – das war schon immer für beide Truppen wichtig.

Das Schnitzel wird endlich serviert. Es hat gedauert. Wir sind schon beim dritten Bier. Die Portion ist riesig, der Hunger aber auch. Wir erinnern uns an weitere Momente.

Haimerl erzählt davon, dass er als Co-Trainer in einer Saison ausgerechnet in den beiden Aufeinandertreffen mit meiner Mannschaft seinen Trainer vertreten musste und beide Spiele verlor. Ich erinnere mich an ein Heimspiel, vor dem BU 2 im Kreis nochmals betonte, dass es dieses Mal endlich klappen müsse. Wann wir angefangen haben, häufiger miteinander zu kommunizieren, wissen wir beide aber auch nicht mehr ganz genau.

War es die zufällige, gemeinsame Gegnerbeobachtung bei UH Adler Sonntagmorgen an der Beethovenstraße? Oder irgendeine der vielen Abstimmungen bezüglich Trikotfarben per WhatsApp? Die endgültige Initialzündung war wohl die sehr nette Geste beim vorletzten Aufeinandertreffen im Herbst 2018. Haimerl überreichte mir beim Gastspiel in Barmbek ein Sixpack mit ausgefallenem Bier als Aufmerksamkeit zu meiner Hochzeit. Seitdem tauschen wir uns regelmäßig über Amateurfußball aus, vornehmlich über die Bezirksliga Nord aber auch andere Skurrilitäten im Hamburger Fußball. Selbst seit dem Aufstieg von BU 2 in die Landesliga ist der Kontakt nicht abgerissen. Im Gegenteil.

Das Schnitzel ist verputzt, die nächste Runde Bier bestellt. Themen gehen uns nicht aus. Der Amateurfußball hat einfach zu viel zu bieten, vor allem, wenn man so bekloppt ist wie wir. Wir sprechen über Gerüchte, über Spieler, über verrückte Gestalten, die sich überraschenderweise seit Jahren in den höchsten Amateur-Ligen profilieren dürfen. Doch jetzt will ich wissen, wie mein Namensvetter eigentlich Trainer geworden ist. Eine Frage, die mich bei jedem Kollegen extrem interessiert.

So richtig darauf aus sei er nie gewesen, berichtet Jan-Hendrik Haimerl. Lange Zeit war er Assistent. Doch als sein Chef das Amt aufgab und die Mannschaft nach ihm verlangte, wagte er den Schritt in die erste Reihe. „Ich hatte mir nie vorgenommen, irgendwann mal Trainer zu sein“, sagt er heute. Doch der Schritt war der richtige. Binnen zwei Jahren baute er in Barmbek eine Mannschaft auf, die tatsächlich aufsteigen würde. Das war vorher schon jahrelang das Ziel gewesen. Im Mai 2019 hat es als Vizemeister endlich geklappt.

Das Vertrauen im Verein ist kontinuierlich gestiegen. Kein Wunder, schließlich läuft es auch eine Spielklasse höher als Aufsteiger ausgezeichnet. „Am Anfang haben wir noch etwas Lehrgeld bezahlt und mussten begreifen, dass eine solide Leistung in dieser Liga nicht auch immer gleich mit Punkten belohnt wird.“

Seine Entwicklung hat sich im Hamburger Amateurfußball herumgesprochen. Immer wieder trudeln Anfragen anderer Vereine ein. Doch die Liebe zum HSV Barmbek-Uhlenhorst war bisher immer stärker als die Neugier, mal etwas Neues auszuprobieren. Parallel absolviert Haimerl seinen B-Lizenzlehrgang in Barsinghausen, mit dabei sein Co-Trainer Stephan Obst, ebenfalls ein BU-Urgestein und durchaus einer der Faktoren für die aufgekommene Rivalität unserer beiden Mannschaften.

„Obst war immer genauso verrückt wie euer Torwart damals“, schmunzelt Coach Haimerl, während die nächste Runde Bier auf den wackeligen Biertisch gestellt wird. Genau diese Verrücktheit ist aber auch das, was die Typen im Amateurfußball auszeichnet. Echt muss er sein, dieser wahnsinnige Sport. Da sind wir uns beide einig. „Wenn ich sehe, wie viel Geld mittlerweile im Amateurfußball im Umlauf ist, dreht sich mir der Magen um“, sagt mein Gegenüber, „das macht doch keinen Spaß.“ Ich stimme zu.

Und weil wir beide so denken, weil uns diese in unseren Augen falsche Entwicklung so zuwider ist, wir unsere Teams auch nach diesen Werten aufgestellt haben, genau deshalb sind wir Rivalen geworden und genau deshalb auch Kumpel.

Gleichgesinnte zu treffen, ist für mich ein hohes Gut. Der Kosmos Amateurfußball ist nicht für jeden begreifbar und gerade deshalb macht es solch eine Freude, sich mit anderen Bekloppten wie Jan-Hendrik Haimerl auszutauschen. Selbst, wenn sie nicht mehr in derselben Liga spielen. Dass der Niendorf-Fluch auch höherklassig weitergeht (unsere 2. Mannschaft spielt dort) reicht mir da völlig.

Wir kippen noch einen Schnaps, stoßen mit dem letzten Schluck des x-ten Bieres an, zahlen und verabschieden uns. „Bis bald!“ „Jo, bis bald“. Auf dem Fußballplatz. Es ist sehr wahrscheinlich.

Mein Jahr 2019 im Trainingsanzug

Januar

Das Jahr begann früh. Durch den zeitigen Pflichtspielstart meiner U18 ging es bereits eine Woche nach Silvester wieder auf den Platz. Nur drei Wochen waren Zeit bis zum Auftakt. Dass der Hamburger Winter ab Januar nicht kalkulierbar ist, erschwerte die Aufgabe, dass ich nach der kurzen Winterpause noch nicht wieder voll aufgeladene Akkus besaß, ebenfalls. Immerhin: Meine Herrenmannschaft sollte erst zwei Wochen später wieder einsteigen.

So blieb die Doppelbelastung zunächst aus. Dafür aber nicht das miese Wetter. Schnell lag der Platz voller Eis und auch Schnee. Improvisieren war angesagt. Intervallläufe im Wald waren möglich, aber nicht dauerhaft die einzige Lösung. Deshalb funktionierte ich den Kabinentrakt so um, dass ein Kraft- und Ausdauerzirkel möglich war. Das ganze wiederholte ich auch einige Tage später bei den Herren.

Ohne Testspiel ging es ins erste Pflichtspiel, direkt Pokal. Den zu gewinnen, hatten sich die Jungs vor der Saison als Ziel gesteckt. Die Hürde Achtelfinale nahm die Mannschaft trotz der geringen Praxis mühelos.

Jetzt ging es auch bei den Herren wieder los. Im Winter ist Kreativität gefragt. Fußball-Biathlon, Soccerhalle, Kleinfeld-Spiele, Boxtraining mit Motivationscoaching – all das gehört im Winter bei mir fest dazu. Große Spielformen sind aufgrund der unsicheren Wetterlage schließlich schwierig zu planen. Beispiel: Am letzten Januarwochenende fiel das Testspiel der Herren am Samstag aus. Sonntag wurde es wärmer und die A-Jugend konnte auf demselben Platz ihr Pokalspiel absolvieren.

Februar

Im Februar stabilierste sich die Wetterlage. Die A-Jugend steckte schon voll wieder im Punktspielbetrieb und holte aus vier Partien drei Siege, wobei die eine Niederlage ein herber Dämpfer war und vielleicht sogar der Knackpunkt für den weiteren Saisonverlauf.

Die Herren dümpelten durch ihre Vorbereitung. Bis auf eine Partie war kein Feuer zu erkennen. Zufall, dass in dieser einen Partie die ersten 2001er dabei waren? Da war zu erkennen, was Konkurrenzkampf auslösen kann. Vielleicht lag der Fehler aber auch bei mir. Die Doppelbelastung hatte bereits Spuren hinterlassen und das Feuer in mir loderte nur noch. Ich war nicht in der Lage, mit voller Akribie mit dem Team zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war für den Start in den Pflichtspielbetrieb nur das Schlimmste zu erahnen.

März

Es kam anders – zunächst jedenfalls. Die Herren starteten furios mit zwei 5:0-Siegen. Doch ein maues 1:1 gegen einen Abstiegskandidaten sorgte für den ersten Dämpfer, eine 1:2-Niederlage gegen ein weiteres Kellerkind für den nächsten. Der Kader war dünn. Schon zu diesem Zeitpunkt spielten die ersten 2001er bei den Punktspielen mit.

Schließlich startete bei der A-Jugend nun der Fleckenteppich-Spielplan. Zwei Spiele im März, zwei im April, drei binnen fünf Tagen im Mai – Wahnsinn! So kann keiner seinen Rhythmus aufnehmen. Die Tendenz zeigte so auch immer weiter abwärts. Die Jungs waren parallel im Abistress und Fußball verständlicherweise nicht Priorität Nummer 1. Dazu kam, dass die Aussicht auf eine Top-3-Platzierung immer geringer wurde und auch meine Energie nicht ausreichte, um dagegen anzugehen.

April

Im April setzte sich dieser Trend fort. Zwar erreichten wir gegen einen schwachen Gegner locker das Viertelfinale im Pokal, allerdings war der Rhythmus in der Liga endgültig dahin. Das einzige Punktspiel des Monats ging daheim 0:3 verloren. Vorne ungefährlich und hinten anfällig – da half auch ein klares Ballbesitzplus nichts. Den Jungs fehlte mental und körperlich die Frische.

Bei den Herren hatte sich das Blatt hingegen wieder gewendet. Gegen den späteren Meister gab es ein 1:1, danach zwei Siege. Die Top 6 schienen wieder greifbar.

Mai

Auch weil im Mai aus den ersten beiden Partien weitere vier Zähler folgten. Doch wie so oft in der Geschichte dieser Mannschaft ging ihr am Ende die Puste aus. Zwei üble Klatschen (1:5, 2:6) waren die Folge. Spiele, die noch höher hätten verloren werden können. Die Spannung war verloren gegangen. Immer wieder dieselben Spieler mussten spielen. Viele von ihnen waren aufgrund von Verletzungen oder Urlauben nicht richtig fit. Der Substanzverlust war für mich aber eine wichtige Lehre. Die Erkenntnis, auch im mittleren Amateurbereich, einzelnen Spielern nach Abstinenz ein individuelles Training mit Schwerpunkten im Bereich Ausdauer und Athletik anzubieten, nahm ich als Ansatz mit in die neue Saison.

Zum Abschluss der Saison bei den Herren verabschiedeten wir zudem meinen Vater, der über 23 Jahre an meiner Seite war und mir bei beiden Mannschaften als Betreuer den Rücken freigehalten hatte. Papa, ich werde dir dafür ewig dankbar sein. Ein emotionaler Höhepunkt, der schnell über die schlechten Ergebnisse zum Ende der Spielzeit hinweg tröstete.

An diesem Punkt war die U18 noch lange nicht. Der Mai begann mit dem Wahnsinn, drei Spiele binnen fünf Tagen während der schriftlichen Abi-Prüfungen absolvieren zu müssen, und das mit 11 bis 13 Mann. Der traurige Höhepunkt: eine 0:6-Packung beim späteren Meister. An dem Tag spielten die Herren am Morgen auf der einen Seite der Stadt und die A-Jugend am Nachmittag auf der anderen. Aufgrund der Anstoßzeiten war ich von 9 bis 20 Uhr aus dem Haus und nachmittags nicht mehr in der Lage, an der Seitenlinie als Korrektiv zu agieren.

Nur zwei Tage nach diesem Fiasko ging es zum Pokalhalbfinale. Personell etwas erholt sollte die Partie auch noch über 120 Minuten gehen – immerhin mit dem besseren Ende für uns. Ein großartiger Moment für die Mannschaft und ein wahnsinnig tolles Gefühl, diese einmalige Geschichte (G- bis A-Jugend) mit einem Endspiel abschließen zu können.

Juni

Doch dieser Traum zerplatzte schneller als gedacht. Das Finale war für das Wochenende angesetzt, an dem mit den Herren die Abschlussreise auf Mallorca gebucht war. Zur Erklärung: Ich habe selbst lange als Spielertrainer in dieser Mannschaft gespielt, viele meiner engsten Freunde sind meine Spieler. Die Reise nach Mallorca wird lange Zeit im voraus gebucht und ist ein Highlight jedes Jahr. Ich war todtraurig, dass ich beim Finale nicht dabei sein konnte, aber auch im Nachhinein war es die richtige Entscheidung.

Dass die Jungs auch noch trotz Überlegenheit mit 0:2 verloren, milderte meine Traurigkeit nicht wirklich. Der ganz große Wurf blieb diesem Jahrgang trotz vieler Erfolge bis zum Ende verwehrt. Und so endete mit zwei weiteren Punktspielen (1 Remis, 1 Sieg) dieses Kapitel meines Lebens, das als 18-Jähriger begann und als 31-Jähriger endete.

Juli

Noch nie war mein Verlangen nach einer Sommerpause so groß wie in diesem Jahr, noch nie fiel sie so kurz aus. Zwei Wochen ohne Fußball waren auf den ersten Blick zu wenig. Auch jetzt konnte ich die Akkus nicht voll aufladen, die Sommervorbereitung für die Herren nicht komplett planen. Doch irgendwas war anders als sonst. Ich spürte wieder ein Brennen in mir, ein Verlangen nach dem Trainerdasein. Es schien beinahe so, als würde mein Trainingsanzug wieder nach mir schreien. Ich folgte den Rufen.

Es war die Vereinigung zweier Teams, die das Feuer wieder entfachte. Gleich acht meiner 2001er gingen in die Herren. Ich wusste um deren fußballerischen Fähigkeiten und wie sehr diese in einer funktionierenden Gemeinschaft zur Entfaltung kommen könnten. Mir war auch klar, dass es etwas Zeit brauchen würde. So waren Vorbereitung und Saisonstart holprig. Doch schon im Training war zu sehen, dass sich etwas verändert hatte. Die arrivierten Spieler kämpften um ihre Vormachtstellung, welche die jungen ihnen streitig machen wollten.

August

Die Saison startete als Achterbahnfahrt, ähnlich Kolossos im Heide Park Soltau. Hoch und runter. Die Ergebnisse stellten sich noch nicht ein, einige Verletzungen und diverse Urlaube sorgten für nur wenig Konstanz im Kader. Es war aber zu sehen, dass es funktionieren wird. Wir konnten im Training ganz andere Inhalte umsetzen, viel mehr Fußball spielen lassen als in den Jahren zuvor. Ich glaube, dass alle schnell gemerkt haben, dass sich etwas verändert hatte. Das Feuer, das dem Team in der Vorsaison oft fehlte, schien zurück. Sieben Punkte aus fünf Spielen waren natürlich trotzdem ausbaufähig.

September

Im September folgten abermals sieben Punkte, allerdings aus vier Partien. Die Leistungen wurden auch besser. Besonders ein 4:1-Heimsieg über einen Aufstiegskandidaten zeigte das Potenzial auf. Als wir im letzten September-Spiel ein 1:3 noch in ein 5:3 drehten, war spätestens klar, dass hier etwas entstehen würde. Im Training war so viel Feuer drin wie ewig nicht mehr. Jeder wollte spielen, jeder wollte sich beweisen. Es sollten diejenigen profitieren, die eine hohe Trainingsbeteiligung aufboten.

Oktober

Zwei Siege, zwei Niederlagen gegen Topteams. Nach 13 Spielen hatten wir nur 17 Punkte, auch wenn die Leistungen für mehr gereicht hätten. Mit dem Blick auf den Spielplan und noch sieben ausstehenden Partien bis zum Jahresende präsentierte ich der Mannschaft meine Zielsetzung: die Punktzahl verdoppeln. Bei 21 möglichen Zählern ehrgeizig aber machbar. Der Oktober endete mit einem knappen 1:0-Erfolg. Es war der Grundstein für eine einmalige Siegesserie.

November/Dezember

Es folgte der Rekord-November mit Dezember-Sahnehäubchen. Sechs weitere Siege, 17:6 Tore. Wir waren in der erweiterten Spitzengruppe angekommen. Im Training war überragende Stimmung. Entgegen frührer Einstellungen befürwortete ich die ausgelassene Kabinenatmosphäre mit Kästen nach dem Training. So eine Euphorie muss man mitnehmen, wenn man denn erkennen kann, wann die Zügel wieder anzuziehen sind.

Das tat ich und dennoch erfolgte die Rotation etwas zu spät. Auswirkungen auf die Ergebnisse hatte das aber keine. Auch wenn die Leistungen in den letzten drei Spielen schwächer wurden, standen immer drei Punkte auf der Habenseite. Selbst mit acht Mann wurde gewonnen. Auch am lezten Spieltag vor der Winterpause konnte uns eine der schwächsten Leistungen des Jahres nicht von der Siegerstraße abbringen.

Die Winterpause hätte dennoch nicht besser getimed werden können. Ich bin mir sicher, dass jeder nächste Gegner einer zu viel gewesen wäre. Wie Pep Guardiola schon sagte: Irgendwann verliert man wieder ein Spiel. Die entscheidende Frage ist nur, ob es einen aus der Bahn wirft oder nicht.

Fazit

Fast aus der Bahn geworfen hätte mich dieses intensive Jahr. Da bin ich ehrlich. Unterm Strich war es zu viel, alleine die A-Jugend zusätzlich zu Bezirksliga-Herren zu machen. Es waren aber meine Jungs, meine kleinen Brüder und die Mannschaft für eine A-Jugend verhältnismäßig pflegeleicht. Ob ich noch mal ein Juniorenteam coachen werde, weiß ich nicht. Ich bin mir aber sicher, dass es die Alterstufe 6-12 Jahre wäre. Ein tolles Alter, um Grundlagen bei Kinder zu legen.

Dass 2019 mich wieder hat Blut lecken lassen, ist der Fusion der beiden Teams zu verdanken. Ich war leer, das muss ich zugeben. Ich hatte mich in Bezug auf das Trainerdasein noch nie so gefühlt. Aber das Feuer kam zurück. Neue Reize, neue Ideen, neue Spieler, neue Möglichkeiten – das hält einen frisch.

Ich werde immer eine Mannschaft trainieren wollen, in der Spieler spielen, zu denen ich ein freundschaftliches Verhältnis habe. Der Geist ist fest in dieser Truppe verankert und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Aber ich habe auch erkannt, dass ich manchmal personelle Entscheidungen treffen muss, die sportlich notwendig, wenngleich freundschaftlich traurig und bewegend sind. Gehe ich diesen Weg nicht weiter, wird die Stichflamme in mir schnell wieder weichen. Einen dann nur noch lodernden Coach braucht niemand mehr.

Das war’s in 2019. Kommt alle gut in 2020. Es wird das zweite Jahr mit diesem Blog sein. Ich habe damit Einiges vor und werde wie angekündigt auf Deutschland-Tour gehen. Was daraus wird, will ich noch nicht genau sagen, aber ich freue mich unendlich über die tolle Resonanz und auch das fantastische Feedback, das ihr mir gebt. Wenn jemand Fremdes mir schreibt, dass er sich in den Erzählungen wiedererkennt, bedeutet mir das alles. Guten Rutsch, ihr fußballverrückten Trainerlegenden!

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial