Elf Spieler reichen doch

Warum fallen so viele Amateurfußballspiele aus

Warum fallen so viele Amateurfußballspiele aus?

Um ein Fußballspiel zu spielen, braucht eine Mannschaft elf Spieler. Wenn noch zwei, drei Spieler auf der Bank sitzen, umso besser. Doch in Zeiten, in denen ein Corona-Verdachtsfall ausreicht, um ein Pflichtspiel abzusagen, scheint das mit den elf plus drei Spielern irgendwie nicht mehr ganz richtig zu sein. Zumindest müssen einige Mannschaften einen so kleinen Kader haben, dass sie kaum elf Mann zusammenbekommen am Wochenende. Reihenweise fallen Spiele in diesem Jahr aus, nicht selten sind es immer dieselben Mannschaften, die ihre Ansetzungen wieder absetzen lassen. Und da stellt sich mir dann schon die Frage, ob sich alle Vereine ihrer Verantwortung für ein Mindestmaß an Gesundheitsschutz auf der einen, und für den sportlichen Wettbewerb auf der anderen Seite bewusst sind?

Mir fällt es schwer, meine Gedanken dazu zu sortieren. So, dass auch klar wird, worauf ich hinaus will. Richtig ist, dass es innerhalb eines Teams immer wieder Corona-Fälle gibt und geben wird. Das ist besonders in dieser Rückrunde so. Die Frage ist nun nur, wie man als Mannschaft damit umgeht. Meldet sich ein Spieler nach einem positiven Test, schaue ich doch erst einmal, ob er gegebenenfalls ansteckend in der Kabine saß. Wenn unwahrscheinlich, ist alles in Ordnung. Wenn möglich, lasse ich die anderen Spieler zwei, drei Tage in Folge einen Test machen. Da in der Kabine nahezu immer Maske getragen wird, ist das Übertragungsrisiko dann schon noch sehr gering.

Der sportlich faire Wettbewerb sollte über allem stehen

Das scheint aber bei vielen anderen Mannschaften anders zu sein. Zumindest finde ich Aussagen von Verantwortlichen schwierig, wenn es heißt, es haben sich wohl wieder viele untereinander in der Kabine angesteckt. Da scheint es dann auch keinerlei Schutzmaßnahmen zu geben. Natürlich wollen alle wieder lange in der Kabine sitzen und beim Duschen mal ein Bierchen zusammen trinken, aber eigentlich wollen wir doch in erster Linie diese Saison vernünftig zu Ende spielen, oder? Sollte das nicht über allem stehen? Ein sportlich fairer Wettbewerb ohne Verzerrungen?

Wenn schon einige Nachholspiele auf dem Plan stehen, muss man vielleicht etwas mehr darauf achten, dass es keinen Ausbruch in der Kabine gibt. Denn nur ein solcher Ausbruch legitimiert meiner Meinung nach auch eine Spielabsage. Wenn es innerhalb einer Mannschaft Corona-Fälle gibt, bei denen die Ansteckung im privaten Rahmen stattgefunden hat und die nicht aufs Team übertragen wurde, sollte man trotzdem versuchen zu spielen, auch wenn man nur elf Spieler hat. Natürlich gibt es immer Ausnahmefälle, in denen auch in solchen Situationen Absagen gerechtfertigt sind wie zum Beispiel, wenn von den elf verbliebenen Spielern einige zuvor noch zwei Wochen wegen einer Infektion pausieren mussten und das Gesundheitsrisiko dann einfach zu groß ist.

Spielermangel gab es immer schon

Am schlimmsten finde ich es aber, wenn sich der Verdacht erhärtet, man ließe wegen eines Falls Spiele ausfallen, weil aus anderen Gründen wichtige Spieler fehlen, also wenn Teams diese ohnehin nicht so glückliche Regel auch noch bewusst ausnutzen. Auch wenn ich bei abstiegsbedrohten oder sich im Aufstiegskampf befindenen Teams ein ganz bisschen Verständnis habe, müsste man auch in anderen Jahren mit Ausfällen wichtiger Stammkräfte zurechtkommen. Das gehört dann nun mal dazu. Jetzt könnte man sagen, dass bei mehreren Corona-Ausfällen ein sportlich fairer Wettbewerb ja auch nicht mehr gegeben wäre. Aber das Argument zieht nicht, weil ja auch Verletzungspech oder andere Krankheitswellen in den vergangenen Jahren kein Grund für eine Absage waren. Die Verbände haben eigentlich auch sauber in den Spielordnungen geregelt, wann es wegen Spielermangel Absagen geben darf.

Keine Verdachtsfallregel in der neuen Saison

Auch bei uns gibt es immer mal wieder Corona-Fälle, ein Spiel abgesagt habe ich deshalb noch nicht. Eine gute Kommunikation innerhalb des Teams, ein Verantwortungsgefühl bei Spielern und Funktionsteam sowie der Anspruch, am Wochenende eben jene elf plus drei Spieler auf den Spielberichtsbogen zu schreiben, gepaart mit dem letzten bisschen Gesundheitsschutz durch Maske in der Kabine machen es möglich. Das scheinen andere aber anders zu handhaben. Die Auswirkungen für den sportlichen Wettbewerb sind enorm. Das nervt! Lasst es uns gut zu Ende bringen! In der neuen Saison gibt es die Verdachtsfallregel dann immerhin nicht mehr. Ich bin gespannt, wie es dann laufen wird.

Amateurfußball ohne Kabine ist kein Amateurfußball

Ohne Kabine macht der Amateurfußball weniger Spaß.

Das Training ist zu Ende, in kleinen Gruppen holen die Spieler kurz ihre Sachen aus der Kabine, wechseln schnell ihre Schuhe, ziehen eine Jacke über und ab geht es nach Hause. Nur zwei, drei von ihnen duschen noch eben. Nur zehn Minuten nach dem Training ist die Kabine bereits wieder so gut wie leer. Dasselbe Bild am Wochenede. Kein Siegerfoto, kein Duschbier – es muss schnell gehen, nur kleine Gruppen.

In der langen Fußballpause im vergangenen Winter hatte ich geglaubt, dass es nur darum ginge, schnellstmöglich wieder auf den Platz zu kommen und gegen die Kugel zu treten, Zeit mit seinen Teamkameraden zu verbringen. Das mag fürs erste ausreichen, wenn man zuvor wochenlang zu Hause hocken musste. Doch anders als vielleicht im Jugendfußball, bei dem es noch etwas mehr um den Sport, um eine Entwicklung auf dem Platz geht, findet Amateurfußball vor allem auch in der Kabine statt. Die Kabine ist die Seele einer jeden Mannschaft.

In der Kabine labert man Scheiße, trinkt sein Bier, jubelt über drei Punkte, hadert mit dem Gegentor in der letzten Minute. Hier klopfen sich Spieler auf die Schulter oder sagen sich die Meinung. In der Kabine entsteht der Geist, der Siegesserien beginnen lässt. Wegen der Kabine spielen viele überhaupt noch Fußball.

Die Sehnsucht nach dem Kabinen-Gefühl wächst

Dieses Gefühl fehlt. Über kurz oder lang wird dieses fehlende Gefühl weitere Spieler kosten, die sich eigentlich gern über Jahre hinweg nach einem anstrengenden Arbeitstag auf den Platz gequält haben, um die Jungs zu sehen. Es ist die Kabine, die einen den inneren Schweinehund überwinden lässt und nicht der runde Ball.

Ich wünsche mir eine Zeit, in der ich den Franzbrandwein wieder direkt in meine Nase ziehen lassen kann, in der ich sofort rieche, wenn jemand seine Stutzen nicht gewaschen hat, in der ich mit meinen Freunden an einem Donnerstag mit zwei Kisten Bier in der Kabine versacke und an Mallorca denke, in der das dritte Duschbier noch besser schmeckt und wärmer ist als das erste und zweite. Das ist die Leichtigkeit. Das ist für mich Amateurfußball.

Lässt Corona nichts Anderes zu?

Nicht falsch verstehen: Ich will nicht, dass alle Corona-Maßnahmen für den Amateursport abgeschafft werden. Vorsicht ist weiterhin wichtig. Ein Übertragung in der Kabine kann schließlich dafür sorgen, dass es nicht mal mehr auf den Platz gehen kann, weil sich zu viele Spieler anstecken. Doch könnte es nicht gerade für geimpfte und vor allem geboosterte Teams andere Regeln geben? Wenn Geboosterte als Kontaktpersonen eh nicht mehr in Quarantäne gehen müssen, so lange sie keine Symptome haben, sind doch Personenbegrenzungen obsolet, oder?

Für meine Mannschaft habe ich die Maskenpflicht als FFP2-Pflicht ausgelegt, obwohl eine medizinische Maske reichen würde. Ob ich jetzt mit sechs, neun oder 14 Spielern in der Kabine bin, wenn alle eine FFP2-Maske tragen, dürfte vermutlich keinen großen Unterschied machen. So könnte man zumindest mal eine Besprechung abhalten. Besonders vor dem Spiel gehört das unbedingt dazu. Zum einen, um sich auf Partie und Gegner einzustellen, zum anderen, um sich heiß zu machen. Fällt das weg, wabert so ein latenter Testspiel-Modus durch die Truppe.

Was bringt es also, wenn der Ball zwar rollt, aber sich nach der Saison wieder ein paar mehr Spieler dafür entscheiden, mit dem Kicken aufzuhören, weil es nicht mehr so ist wie früher? Und so stelle ich für mich fest, dass es im Amateurfußball eben nicht mehr nur darum geht, um jeden Preis zu kicken. Weil das auf Dauer ohne Seele ist. Weil das auf Dauer beliebig ist.

Irgendwann ist Corona weg und die Kabine wieder da

Doch bei all dem Ärger, all der Verzweiflung: Am Ende bleibt einem nichts Anderes übrig, als die Stimmung hochzuhalten, das Beste daraus zu machen, die Vorzüge des gemeinsamen Sporttreibens herauszustellen und irgendwie zu hoffen, dass die Kabine, die Seele des Amateurfußballs, bald wieder zurückkehrt. Ich habe schließlich Lust auf ein Duschbier.

Veränderung, Lähmung und die Hoffnung auf Zukunft

Fußball-Trainer denkt über seine Zukunft nach.

Winterpause. Wie immer spielt Fußball in den ersten ein bis zwei Wochen überhaupt keine Rolle in meinem Kopf. Dann passiert das, was ich seit Jahren immer besonders genieße. Der Wissensdurst kommt zurück. Ich nehme wieder Fußballinhalte wahr, setze mich wieder mit Dingen auseinander, für die nach einer langen Serie kein Platz war. Noch ist es abstrakt. Geordnet wird erst in der dritten Phase.

Doch dieser letzte Abschnitt einer jeden Saisonunterbrechung ist mittlerweile anders. Das ist er seit nunmehr zweieinhalb Jahren. Während sonst Trainingspläne ausgetüftelt und Spielideen formuliert werden, setzt plötzlich der totale Stress ein. Der bevorstehende Trainingsauftakt, das erste Testspiel rücken näher, die Fragmente einer inhaltlichen Auseinandersetzung wieder in die Ferne.

Das erste Mal erlebte ich diesen Wandel im Sommer 2019. Nach der intensivsten Saison meiner Trainerlaufbahn hatte ich nur eine Woche Sommerpause. Meine A-Jugend spielte bis Mitte/Ende Juni noch um Punkte, während meine Herren ein paar Tage später in die Vorbereitung starten sollten. Kein menschlicher Akku der Welt lädt so schnell auf.

Das Feuer brennt nicht mehr

Die erste Saison nach einem größeren Umbruch lief dennoch gut, dann stoppte uns direkt nach einer zährenden Wintervorbereitung Corona. Pause. Und als es im Frühsommer wieder losging, war es im Herbst plötzlich wieder vorbei. Erneut Pause. Doch schon im Winter 2020 war ich nicht mehr so gut vorbereitet, setzte schon nicht mehr so viele neue Reize, hangelte mich häufiger von Training zu Training und von Spiel zu Spiel. Das wurde im Sommer 2020 schlimmer und fand nun im Sommer des vergangenen Jahres seinen negativen Höhepunkt. Das Feuer brennt nicht mehr so wie früher. Eine natürliche Abnutzung, das Fehlen von Zeit, die Geburt meiner Tochter. Die Konsequenz ist eine Mannschaft, die genauso launisch spielt, wie ihr Trainer im Hintergrund agiert. Es kann alles funktionieren, und kurz darauf plötzlich gar nichts.

In der Bezirksliga kann das genug sein, ist es bei vielen Teams schon seit Jahren. Ist mal Dampf unterm Kessel, läuft es, aber ebenso schnell wird auf halber Flamme gekocht und es läuft nicht. Das reicht dann fürs untere Mittelfeld und für den Klassenerhalt, aber eben für mehr auch nicht. DAS, war bisher aber nie mein Anspruch. Nicht, dass man nicht auch mal gegen den Abstieg spielen kann, oder mal im Mittelfeld festhängen darf, doch es muss stets versucht werden, etwas weiterzuentwickeln, nicht einfach nur zu kicken. Diesen Versuch schaffe ich nicht mehr zu machen. Aber das ist nicht alles.

Der Bumerang schwieriger Entscheidungen

Fast 15 Jahre habe ich an einer Gemeinschaft gearbeitet. So viel Energie und Hingabe sind in dieses Team geflossen. Ich bin erst 33 Jahre alt, aber sehe diese Mannschaft als das Werk meiner ersten Lebenshälfte. Viel, aber berechtigter Pathos. Ein Großteil meiner ganz persönlichen Erinnerungen an die Lebensjahre 20 bis 33 sind mit den Menschen dieser Gemeinschaft verbunden. Vielen von ihnen geht es auch so. Worte können das nicht beschreiben. Alles wurde gemeinsam erlebt. Gegründet aus alten Freunden, vermischt mit Unbekannten, die zu neuen Freunden wurden. So war es über viele Jahre.

Ein alter Weggefährte fragte schon vor langer Zeit, was eigentlich passieren würde, wenn wir mal älter werden. Ich hatte immer eine Vision davon. Die Entstehung einer alten Herren, eine Ansammlung all der alten Freunde, die von Beginn an dabei waren oder dazustießen und wieder gingen. Geläutert und erwachsen. Väter und Ehemänner. Weder als Spieler noch als Trainer dieser Mannschaft sah ich mich. Mehr wie ein willkommener Dauergast, der nach all den Jahren als Anführer, als Bauherr dieser Gruppe, passiver Teil des Resultats seines Werkes ist. Diese Alte Herren sollte wie bei einer Zellteilung aus der jetzigen Mannschaft entstehen. Dieselbe DNA, derselbe Geist. Spieler, die in ihren Dreißigern als Art Hybride fungieren und für beide Teams wichtig sein können. Dieser Traum ist verblasst.

Als Trainer musste ich im Laufe der Jahre immer schwierige Entscheidungen treffen. Sportlicher Erfolg ließ den Anspruch wachsen. Meinen, aber auch den der Mannschaft. Nicht jeder, der mal Teil des Teams war, konnte diesem sportlichen Anspruch gerecht werden. Ein natürlicher Teil eines Entwicklungsprozesses, wenngleich herzzerreißend. Einige dieser schwierigen Personalentscheidungen scheinen nun wie ein Bumerang meinen Hinterkopf zu treffen. Die durch den Aufprall verursachte Ohnmacht lähmt meine Begeisterung für den Fußball im Hier und Jetzt.

Statt Anführer im Ruhestand, der als Helfer bereitsteht, stehe ich vor verschlossener Tür im Regen und schaue durchs Fenster zu. Der Schmerz, für als Trainer getroffene Entscheidungen als Mensch abgestraft zu werden, zerreißt mein Fußballherz. Ich konnte das Trainer-Dasein und Freundschaft immer irgendwie trennen, habe mir den Kopf zerbrochen, wenn Personalentscheidungen getroffen werden mussten, die nicht meinem Herzen entsprachen, wusste aber stets, dass das eine mit dem anderen nie konkurrieren darf. Ein Drahtseilakt. Bis heute.

Der Glaube an eine andere Zukunft

Wenn ich nachts im Bett liege, so wie in diesem Moment, an dem mich die Gedanken an all das wach halten, komme ich immer wieder zu demselben Punkt. So kann es nicht weitergehen. Fußball ist ein Teil von mir. Trainer zu sein hat mir dabei geholfen, mich im Leben zurechtzufinden. Ich muss also dringend Fragen beantworten: Möchte ich so weitermachen, wie es nun seit einiger Zeit läuft? Nein! Im Sommer einen Schlussstrich zu ziehen, wäre die logische Konsequenz, aber: Kann ich mir ein Leben vorstellen, ohne auf dem Fußballplatz zu stehen? Ebenfalls nein! Denn immer, wenn ich meine Copa Mundial geschnürt habe, die Emotion eines Tores spüre und nur in diesem Moment bin, empfinde ich das Verlangen nach diesem Spiel. Also quo vadis?

Im festen Glauben daran, dass das Aufschreiben meines Dilemmas mir bei der Lösungsfindung hilft, denke ich an eine Zukunft – mit Fußball. An mehr Loslassen, mehr Abgabe von Verantwortung, weniger sportlichen Anspruch, wieder mehr Hobby und weniger Verpflichtung. Kein Festhalten an einer alten Vision, sondern das Akzeptieren der Schattenseite des Anführerdaseins, um aus der Ohnmacht durch den Schlag auf den Hinterkopf zu erwachen.

Und vielleicht entsteht aus dieser Knospe ja eine neue gedeihende Pflanze. Doch wenn ich meine Rolle als Trainer neu zu erlernen versuche, brauche ich eine Mannschaft, die selbiges tut. Mehr Eigenverantwortung, mehr Selbstorganisation, mehr Eigenmotivation, mehr Bereitschaft und weniger den Trainer machen lassen. Kann das funktionieren, wenn es mal anders war? Ich will es auf jeden Fall herausfinden. Wenn es eine Mannschaft kann, dann diese.

Von 1:5 in ein 7:5 – Fußball, du geile Sau!

Niendorfer TSV 3. Herren jubelt über irres Comeback
Eine Aufholjagd für die Ewigkeit

1994 habe ich mit dem Fußballspielen begonnen, seit 2006 bin ich Trainer. Ich habe viele verrückte Spiele erlebt, als Aktiver, als Coach und als Zuschauer. Aber das, was am 30. Oktober 2021 auf dem Kunstrasen in Wellingsbüttel passiert ist, ist eine neue, unglaubliche Erfahrung, die mir und allen Beteiligten wohl für immer in Erinnerung bleiben wird. 1:5 lag meine Mannschaft zur Halbzeit zurück, auseinander gefallen wie ein schlecht gebautes Kartenhaus. 7:5 stand es nach 79 Minuten, 7:6 nach 95. Wahnsinn!

Komplettversagen

Eigentlich begann es wie gemalt. Schuss aus 16 Metern, der gegnerische Torwart lässt abprallen, Abstauber – 1:0! Da waren zwei Minuten gespielt. Doch wie schon zuletzt sehr oft präsentierten wir uns ohne die nötige Aggressivität und Spannung, um ein Spiel in Hamburgs dritthöchster Amateurklasse zu gewinnen. Unser Gegner zeigte schon verbal, dass sie unbedingt wollten, pushten sich, trieben einander nach vorne. Durch zwei Einwürfe, die direkt vor unser Tor geschleudert wurden, stand es nach 15 Minuten plötzlich 1:2. Aber was heißt plötzlich? Es war komplett verdient. Und auch wenn sich Wellingsbüttel nur selten bis tief ins letzte Drittel spielte, war die Überlegenheit deutlich spürbar und sichtbar. Wir hatten keinen Zugriff beim Anlaufen, zu große Abstände zu unseren Gegenspielern, keine Idee im Spielaufbau. Dass die Tore zum 1:3 und 1:4 durch einen direkten Freistoß und eine Ecke fielen, passte ins Bild dieser ersten Halbzeit des Grauens. Als negative Sahnehaube gab es in der einen Minute Nachspielzeit auch noch das 1:5, bei dem wir aussahen wie eine Mannschaft, die vor vier Tagen erstmalig miteinander trainiert hat. Halbzeit.

Fehlendes Werkzeug in der Trainerkiste

Ich hatte mir beim Stand von 1:3 etwas zurechtgelegt, was ich in der Pause sagen wollte. Zwei Tore lagen wir ob unserer Pomadigkeit zuletzt mehrfach zurück. Oft konnten wir die Partie dann noch drehen. Doch dann kamen die Gegentore vier und fünf in der 43. Minute und in der Nachspielzeit. Ich bin noch nie mit einem 1:5 in die Pause gegangen. Dafür gab es noch kein Werkzeug in meiner Trainerkiste.

Natürlich wurde es in der Kabine lauter, natürlich ging es um Ehre, um die Frage nach dem Wieso. Aus mir sprach durchaus auch etwas Verzweiflung. Nachdem ich mich gefasst hatte, forderte ich von meinen Spielern, die zweite Halbzeit mit Anstand und Würde zu spielen, das Ergebnis zu ertragen, zu null zu spielen und sich irgendwie etwas vom Ergebnis zu lösen. Keine dummen Fouls, keine Frustaktionen. Keiner glaubte in dieser Kabine an so etwas wie Punkte, oder gar einen Sieg. Der Sportsmann in mir weigerte sich aber dennoch gegen die wahrscheinliche Niederlage. Wer sagt denn schon, ein Spiel sei verloren? Aber mal ehrlich: 1:5? Trotzdem erwähnte ich das einstige 4:0 der Nationalmannschaft gegen Schweden, das noch 4:4 endete. Zumindest den Gedanken mal äußern, auch wenn er komplett unrealistisch zu sein schien.

Taktisch stellten wir etwas um. Der Gegner baute mit Dreierkette auf und zwei hochstehenden Außen. Darauf bekamen wir keinen Zugriff, also fiel die Entscheidung Richtung Aufbau spiegeln. Dazu zwei Wechsel. 4-3-3 und los!

Der komplette Wahnsinn

Zunächst passierte relativ wenig. Wellingsbüttel spielte es etwas verhaltener, vermutlich im verständlich sicheren Gefühl einer 5:1-Führung. Wir waren zwar direkt etwas bissiger und zielstrebiger, aber es ging ja nur darum, uns besser zu verkaufen. In der 63. Minute gab es dann eine Kopie unseres ersten Tores. Schuss, Abpraller, Abstauber und drin. Ergebniskosmetik. Direkt danach holten wir eine Ecke raus. „Wenn wir jetzt das Dritte machen, geht noch was“, sagte unser Betreuer auf der Bank. Perfekte Ecke, perfekter Kopfball – 3:5! Erster Jubel, Fuß in der Tür. Es vergingen 7 Minuten, bis es wieder klingelte. Und jetzt gerät meine Erinnerung durcheinander. Ich weiß nicht mehr, welches Tor, wann wie wie fiel. Nur noch so viel: Unser Linksaußen traf nun innerhalb von acht oder neun Minuten viermal. 71., 77., 78., 79.! Plötzlich stand es 7:5. Der Torschütze lief nach seinen Treffern desillusioniert übers Feld, wusste gar nicht, wohin. Gut, dass alle anderen ihn in die Arme schlossen. Es war unwirklich. Wir eroberten jeden Ball, trafen jeden Schuss. Komplette Ekstase, Kopfschütteln, Fassungslosigkeit. Es war wie im Rausch. Eine Mannschaft, die am Boden lag und nicht mehr wollte, war plötzlich oben auf und komplett im Auffress-Modus. Glaube, Überzeugung, Bereitschaft, Schmerzpunkt überschreiten – es sind vermeintlich nicht viele Dinge, die es braucht, um erfolgreich Fußball zu spielen.

Zwei Minuten nach dem 7:5 flog der Vierfach-Torschütze für sein zweites Foul mit Gelb-Rot vom Platz. Unterzahl. Weiter Kampf. Einmal noch kam Wellingsbüttel außen durch. Die Hereingabe bugsierten wir uns in der zweiten Minute von fünf Zeigerumdrehungen Nachspielzeit selbst ins Tor. Es war der passende Abschluss eines denkwürdigen Spiels.

Irre Emotionen

Als der Schiedsrichter endlich abpfiff, rannten wir aufs Feld. Ich sah meinen Kapitän. 14 Jahre machen wir schon zusammen Fußball. Ich gucke ihn immer als erstes an, wenn etwas Bedeutendes passiert. Er war fassungslos aber auch voller Freude. Eine völlig irre Emotion in seinem Gesicht. Denselben Ausdruck hatten auch alle anderen, die sich in einer Jubeltraube verschlungen. Der 30. Oktober 2021 wird immer in Erinnerung bleiben und erzählt die Geschichte einer Aufholjagd, zu der erst nicht geblasen wurde und die dann so furios war, dass alles möglich wurde. Fußball, du geile Sau!

Mit Schiedsrichtern reden

Warum mir ein Vorfall nicht aus dem Kopf geht

Vorweg: Ich habe allergrößten Respekt vor Schiedsrichtern und deren Leistungen. Ich bewundere sie sogar, weil sie einen Job übernehmen, der beinahe undankbar ist. Doch am vergangenen Wochenende gab es einen Vorfall, der mir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Der Vorfall war keine Spielentscheidung und hatte absolut gar nichts mit unserer schlechten Leistung oder gar mit dem Ergebnis zu tun. Der Reihe nach.

Nach wenigen gespielten Minuten kommt unser Torwart aus seinem Tor heraus, um einen Ball in die Tiefe noch abzufangen. Er kommt zu spät und prallt mit voller Wucht mit dem Gegenspieler zusammen, geht zu Boden und bleibt liegen. Hier hätte sich keiner beschweren dürfen, wenn der Schiedsrichter die Rote Karte gegeben hätte. Es gab später nur Gelb. Aber das, was mich umtreibt, geschieht zwischen Foul und Bestrafung. Unser Keeper ist sichtbar angeschlagen, ächzt sich auf dem Boden krümmend. Aufgrund der Heftigkeit des Zusammenpralls eilen Co-Trainer und ein Ersatzspieler mit medizinischer Ausbildung auf den Platz (hauptberuflich Physiotherapeut). Letzterer erst, nach dem der Schiedsrichter sein Go gegeben hat, ersterer bereits zuvor. Als Zusatz: Unser Betreuer wird in ein paar Wochen am Knie operiert und kann derzeit nicht so schnell zur Stelle sein.

Der Ersatzspieler meckert beim Betreten des Platzes Richtung Schiedsrichter, der darauf verständlicherweise sofort anspringt. Unser Spieler kniet sich zum verletzten Torwart, der immer noch auf dem Rücken liegend nach Luft ringt, und gibt dem Schiedsrichter beim Behandeln seines Mitspielers abermals Widerworte. Bevor unser Keeper fertig behandelt ist, schickt der verständlicherweise vom Meckern genervte Schiedsrichter den behandelnden Ersatzspieler mit einer Gelben Karte vom Feld. Der Bitte, seinen Spieler zu Ende versorgen zu dürfen, kommt der Schiedsrichter nicht nach. Das alles passiert innerhalb von maximal ein bis zwei Minuten. Unser Torwart versucht erst weiterzuspielen, kommt dann nach Luft ringend und unter Schwindel mit Tränen in den Augen vom Feld und wird außerhalb weiter behandelt.

Wir verlieren das Spiel verdient. Keine Schiedsrichterentscheidung hatte daran einen Anteil. Im Gegenteil: Alle Schiedsrichterentscheidung waren richtig. Darum geht es mir wirklich überhaupt nicht. Wichtig für den Kontext ist aber, dass der Schiedsrichter mit seiner Art, jede Emotion zu ersticken, jeden Kommentar zu kommentieren, nicht nur das Frustrationslevel bei uns, sondern auch beim stets führenden Gegner steigerte. Auch hier will ich betonen, dass jeder Schiedsrichter seine eigene Linie hat und das auch in Ordnung ist. Auch wir Beteiligte gehen mit unserer Art den Schiedsrichtern auf die Nerven. Die Erwähnung ist nur wichtig für den weiteren Verlauf der Geschichte.

Nach dem Schlusspfiff kommt der Ersatzspieler zu mir, der nach fünf Minuten unseren Torhüter behandelt hatte. Er erzählt mir, dass es ihn nicht los lässt, dass er seinen Mitspieler nicht zu Ende versorgen durfte, seine Erste-Hilfe-Pflicht nicht ausführen durfte, dass der Zusammenprall schlimm genug war, dass der Keeper seine Zunge hätte verschlucken können, Nacken- oder Rippen etwas hätten abbekommen können. All das war zu dem Zeitpunkt, als er den Platz verlassen musste, noch nicht klar.

Daraufhin habe ich beschlossen, noch einmal in Ruhe mit dem Schiedsrichter zu sprechen und ihm mitzuteilen, was uns beschäftigt. Ich bin zur Kabine gegangen, vor der er und seine Assistenten standen, habe ihn gefragt, ob er noch eine Minute hätte. Schon beim Schildern des Vorfalls wurde ich mehrfach unterbrochen. Der unhöfliche Ton auch in dieser spielfernen Situation, in der ruhig ein Anliegen geschildert wurde, setzte sich fort. Auf die Anmerkung, der Spieler hätte pöbelnd den Platz betreten, habe ich ihm Verständnis entgegengebracht, auch für seine Entscheidung, ihn mit Gelb zu bestrafen. Dann kam der Vorwurf, warum man ihm nicht vorher gesagt hätte, dass der Spieler eine medizinische Ausbildung habe. Wie viele solcher Notsituationen, in denen das Wissen eines Betreuers endet, gibt es denn bitte in einer Saison, fragte ich. Es ändert in dieser Situation vor allem nichts daran, dass hier eine Situation vorlag, in der das alles egal ist, in der schnell geholfen werden muss.

Plötzlich monierte er, dass der Schiedsrichteransprechpartner sich nach dem Spiel nicht mehr bei ihm gemeldet habe, obwohl er den Wunsch unserem Kapitän nach Abpfiff mitgeteilt hatte. Es würde einen Sonderbericht zur Folge haben. Okay, soll er schreiben. Ich habe abermals ruhig versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass wir uns einfach nur gewünscht hätten, dass bei allen eigenen Fehlern die Erste Hilfe in einer sichtbaren Notsituation zu Ende durchgeführt hätte werden können. Daraufhin brach er immer wütender, immer lauter werdend das Gespräch ab.

Ich bin ein emotionaler Trainer. Ich meckere mal, ich schieße auch mal übers Ziel hinaus. In diesem Spiel bekam ich für das vehemente Fordern des Schlusspfiffs nach Ablaufen der dreiminütigen Nachspielzeit beim Spielstand von 2:5 die Gelbe Karte. Geschenkt. Ich bin auch immer jemand, der den Dialog sucht, vielleicht manchmal zu oft etwas erklären will. Kommunikation ist doch das, was uns am Ende auf dem Sportplatz vereinen kann. Ich bin als Sportsmann zum Schiedsrichter und wollte einfach nur ein „Okay, das habe ich falsch eingeschätzt. Die Behandlung hätte zu Ende durchgeführt werden müssen, aber das Meckern geht auch nicht“ von ihm Hören. Stattdessen gab es eine große Portion „von oben herab“. Und nach 90 Minuten am Spielfeldrand hätte das irgendwie auch vor dem Versuch, ein Gespräch zu führen, klar sein müssen.

Warum ich das aufschreibe? Ich will mehr Miteinander, mehr Dialog, mehr Austausch. Kein Schiedsrichter muss sich unsachlich bepöbeln lassen wegen seiner Entscheidungen, vor allem nicht im Amateurfußball. Aber ist es als Spielleiter nicht wichtig, kommunikativ und auch verständnisvoll zu sein, in den Dialog mit Spielern und Verantwortlichen zu treten, besonders wenn diese nach Abklingen der Emotionen in Ruhe das Gespräch suchen?

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